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Marie Luise Knott

Hannah Arendt, Vor Antisemitismus ist man nur auf dem Monde sicher, Beiträge für die deutsch-jüdische Zeitschrift Aufbau, 1941-1945, München 2000
 

 

 

aus dem Nachwort von Marie Luise Knott

 

Von der  Philosophie in die Politik
 
Hannah Arendt, die 1906 in Hannover geboren wurde und in Königsberg aufwuchs, fühlte sich in ihrer Jugend keineswegs zur Politik berufen. Sie studierte vielmehr bei Heidegger, Jaspers und Bultmann Philosophie und Theologie und promovierte „Über den Liebesbegriff bei Augustinus“. Zur alltäglichen Diskriminierung der Juden hatte ihre Mutter ihr ein selbstverständliches Verhältnis beigebracht: „Man darf sich nicht ducken! Man muß sich wehren!“ Gegen antisemitische Äußerungen von Mitschülern mußte Hannah Arendt sich selber wehren. Doch wenn ein Lehrer eine antisemitische Äußerung tat – die sich zumeist gegen ostjüdische Mitschüler richtete –,  verließ Hannah Arendt die Klasse und berichtete zu Hause über den Vorfall. Dann schrieb ihre Mutter einen Brief, und Hannah Arendt hatte einen schulfreien Tag: „Das war ganz schön.“ So lernte sie früh, daß Gleichheit eine zentrale Vorraussetzung ist, um die  gemeinsame Welt auszuhandeln.
 
(...)
 
Tatsächlich handelte Hannah Arendt: 1933 trat sie in die World Zionist Organization ein. In Paris („wo ich in den ersten Jahren alle wissenschaftliche Arbeit abbrach“) leitete sie u.a. das Büro der Jugend-Alijah – eine Initiative zur Rettung (deutscher) jüdischer Kinder, die nach Palästina gebracht wurden. 1935 begleitete sie einen der Kindertransporte und verbrachte drei Monate in Palästina. Nachdem die politische Lage in Frankreich sich durch die Volksfrontregierung entspannt hatte, nahm sie 1937 ihre wissenschaftlichen Studien wieder auf. Sie „rührte wieder eine intellektuelle Geschichte an“: In Paris beendete sie ihre Varnhagen-Biographie, in der sie als selbstbewußte Gegenfigur zum gesellschaftlichen Parvenu in einer tendenziell antisemitischen Gesellschaft in Anlehnung an den französischen Zionisten Bernard Lazare den „bewußten Paria“ entwarf.
Und sie hatte eine neue „peer-group“ (darunter Chanan Kleenbort, Gershom Scholem, Kurt Blumenfeld, Erich Cohn-Bendit, Walter Benjamin  und ihr späterer zweiter Mann, Heinrich Blücher, der  in der Novemberrevolution 1918 als Mitglied des Spartakusbundes gekämpft hatte und in den 20er Jahren zur Brandler-Thalheimer-Opposition in der KPD gehört hatte). Sie begann, „Politik mit von der Philosophie ungetrübten Augen“ zu sehen, und studierte die historischen Grundlagen dessen, was sie am eigenen Leibe erfuhr: die Geschichte des Antisemitismus, die Entwicklung der Menschen- und Völkerrechte, die Minderheitenverträge des Ersten Weltkriegs und das Schicksal der Staatenlosigkeit. In ihren Vorlesungen über den Antisemitismus an der Deutschen Hochschule in Paris (eine Emigranteneinrichtung) vermittelte sie ihren Zuhörern den Antisemitismus als eine Welteroberungs-Ideologie.
 
„Die Novemberpogrome 1938 und der neu einsetzende Flüchtlingsstrom nach Frankreich machten dieser kontemplativen Tätigkeit ein Ende“. Die Not der Zeit forderte erneut praktische Hilfe. Diesmal arbeitete sie im Auftrag von Georg Landauer für das jüdische Vertretungsorgan Jewish Agency of Palestine. Nach dem Überfall der Deutschen  errichtete sie mit Hilfe der Zionistischen Organisation Frankreichs einen Dienst, der Deutsche und Österreicher aus den Internierungslagern herausholte. Schon damals stand – angeregt vielleicht auch durch die jüdische Einheit im spanischen Bürgerkrieg, von der ihr Chanan Kleenbort berichtet haben könnte - die Vorstellung einer jüdischen Legion im Raum: „Nous regrettons beaucoup“, schreibt sie an Günther Anders am 19. 9. 1939, „qu’il n’y a pas de légion juive.“
 
 
Obwohl 1937 bereits ausgebürgert,  wurde Hannah Arendt 1940 als „deutschstämmige“ und somit feindliche Ausländerin interniert und ins südfranzösischen Lager Gurs gebracht. In dieser Zeit dürfte sie etwas von dem erfahren haben, was sie später in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ als Grundlage des Totalitarismus beschreiben wird: die totale Verlassenheit, das Verschwinden der Menschen aus der Menschengemeinschaft, noch bevor sie real verschwunden sind. Die politische Basis einer solchen Verlassenheit, so analysierte sie später, war die vorausgegangene Herstellung  einer absoluten Rechtlosigkeit. 
Im Zentrum ihres Denkens und Handelns jener Zeit stand also das (eigene) Flüchtlingsschicksal: Neben dem Kampf gegen die Assimilation als Irrweg der Emanzipation, neben der Konfrontation mit dem unausweichlichen  Antisemitismus ging es zuallererst darum, wie man sich als Flüchtling die Fähigkeit zu politischem Handeln erhalten kann. Ohne grundlegende Rechte, so erkannte Hannah Arendt, waren die Flüchtlinge, wo immer sie hinkamen, allenfalls geduldet, verdankten ihre Existenz  den philantrophischen Wohltätigkeiten bzw. Zuwendungen der jeweiligen Gastgesellschaft oder gar einzelner Menschen. Als Geduldete aber waren sie – das hatte Hannah Arendt in den Turbulenzen der Vorkriegsjahre erfahren – abhängig von der gesellschaftlichen (tagespolitischen) Willkür. Dagegen entwickelte sie das „Recht, Rechte zu haben“: Die Juden  „waren politisch (aber natürlich nicht personal) der Fähigkeiten beraubt, Überzeugungen zu haben und zu handeln“. Politische Rechte garantieren einen Raum, in dem sich die Menschen bewegen, denken und artikulieren können. Die Abhängigkeit von Duldung und Wohltätigkeit aber produziert Dankbarkeit oder gar Unterwürfigkeit – beides apolitische Haltungen. Gegen die „Philantrophie als politische Organisationsform des Volkes“ setzte Hannah Arendt folglich die Selbstorganisation des jüdischen Volkes mit eigenen Rechten und einer eigenen Repräsentanz in einem zukünftigen föderierten Europa.