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Marie Luise Knott 

Von Lumpen und Funken 
Notate zu dem Plakat von Patrizia Bach über die Farben und Symbole von Walter Benjamins Passagenarbeit. 

link zum : Katalog Ultrashort, Hochschule Luzern, Design und Kunst Nr. 5

 

Abbildung © Patrizia Bach 2016, Ausschnitt aus dem Poster "über dei Farben und Symbole in Walter Benjamins Passagenarbeit", 1189 x 841 mm

 

Witze transportieren oftmals in wundersamer Kürze Erkenntnisse über die Welt und was sie im Inneren zusammenhält. So auch der Witz von einem Praktikanten, der, neu in einer Irrenanstalt, im Aufenthaltsraum Insassen um einen Tisch versammelt sieht. Einer der Irren sagt eine Nummer, die übrigen kichern. Ein anderer sagt eine andere Nummer und wieder lachen alle. So geht es eine Weile. Auf seine Frage hin, warum alle bei einer Zahl wie auf Kommando lachen, antwortet der Arzt dem Neuling: „Sie erzählen sich Witze. Und weil sie diese schon kennen, haben sie sie, um das Ganze abzukürzen, durchnummeriert.“ Dieser versteht und ruft probehalber „42“ in die Runde. Zunächst herrscht Stille, dann lachen alle: „Der war gut“, kommentiert ein Insasse, „den kannte ich noch nicht.“
Ähnlich wie in diesem Witz - der, vor dem Internet-Zeitalter entstanden, heute eine völlig neue Plausibilität besitzt – geht es auch auf dem Plakat von Patrizia Bach um die Kraft der Kodierungen und deren Gestalt. Während die Irren, neudeutsch gesprochen, mit einem „Cursor“ über den „Touchscreen“ ihres Kopfinnern auf Zuruf einzelne Nummern „anklicken“ und so den „darunter liegenden“ Witz an die innere Denk-Oberfläche holen, hat Patrizia Bach in ihrem Kunstwerk Zahlen- und Buchstaben-Codes, die Walter Benjamin in den Manuskripten seiner Passagenarbeit verwandt hatte, aus dem Kontext gelöst und aneinandergereiht: „J12,5“, „J12,6“, „J 12a,1“, „J12a,2“, „J12a,3“ usw. Unterbrochen wird die Reihe von einzelnen, den Codes zugeordneten farbigen Symbolzeichen: lila Dreiecke, rote Quadrate, gefüllte und leere bunte Kreise. Dazwischen geben einzelne Worte weitere Hinweise auf Walter Benjamins Sortiersystem: „Vorläufer“, „Methode“, „Langeweile“, „Liebe“ oder auch: „Licht in den Passagen“. Worte und Codes wirken in ihrer Linearität und Masse auf dem Plakat grau, die bunten geometrischen Figuren und die Art ihrer Streuung beleben und strukturieren den plakatgroßen Papiergrund. 

Manchmal stelle ich mir vor, Kulturwissenschaftler aller Länder, die sich seit Jahrzehnten in Benjamins Werk vertiefen, träfen sich eines Tages vor Patrizia Bachs Plakat und riefen sich laut einzelne Chiffren zu: B3a,2 zum Beispiel. Natürlich hätten alle das dazugehörige (also hinter der Oberfläche des Plakates, in Benjamins Notizheft und in den Aufzeichnungen niederlegte) Zitat im Kopf sowie das rote Kreuz, das Benjamin hinter die Textstelle gemalt hatte. „B“ wie rotes Kreuz kennzeichnen, dass das Zitat zur Abteilung „Moden“ gehört. 

„Ein Karikaturist stellt – um 1867 – das Gerüst der Krinoline als einen Käfig dar, in dem ein junges Mädchen Hühner und einen Papageien gefangen hält. S. Louis Sonolet: La vie parisienne sous le second empire, Paris 1929, p 245” 1

Krinoline nannte man im Paris des Second Empire, um das es hier geht, ausgestellte Reifröcke aus kleinen Stahlstäben; die Phantasie mit den Hühnern wundert nicht, wenn man weiß, dass einer der Vorläufer der Krinoline „panier“ hieß, also Korb, weil diese Reifröcke umgedrehten Körben glichen. Wegen des Stichwortes „Krinoline“, welche heute, anders als 1860, eine Rarität ist, ruft der Kulturwissenschaftler aus dem neuseeländischen Wellington einen weiteren Code in die Runde: E5a, 8. Sofort geht ein „Ah“ durch die Runde, und auf dem Screen im Kopf der versammelten Wissenschaftler erscheint der Eintrag: 

Die Straßenerweiterungen, sagte man, seien wegen der Krinoline durchgeführt worden.“ 2

Sich vorzustellen, dass Frauen unter Krinolinen nicht nur schmuggelten, sondern dort auch lebende Hühner ihr Unwesen trieben – welches Unwesen, wird der Phantasie der damaligen Passanten wie des heutigen Lesers überlassen –, muss auch für Benjamin ein Vergnügen gewesen sein. Dass es eine Zeit gab, in der Krinolinen derart in Mode waren, dass ihretwegen Straßenerweiterungen geplant wurden, ist in sich bereits ein gelungenes „Ultrashort“. Es erzählt mehr über die absurden Herrschaftsweisen von Moden als lange Abhandlungen dies je könnten. Moden prägen, ja modeln offensichtlich unsere ganze Welt, nicht nur das öffentliche Bild (Erweiterung der Trottoirs), sondern auch unsere Innenbilder. Die Krinoline verschaffte den Frauen Abstand, sie hielt ihnen die Mitmenschen (auch und gerade die Männer) vom Halse und vom Leibe; und man kann an ihr ein Phänomen studieren, welches Benjamin einmal den „unauslöschlichen Durst dieses Jahrhunderts nach Perspektive“ genannt hat. Im übrigen handhabte die krinolinetragende Frau ihren aus Draht gebauten Steifrock wie eine Ritterrüstung, die sie bei Bedarf eben aufklappte. 

„Jede Saison bringt in ihren neuesten Kreationen irgendwelche geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge. Wer sie zu lesen verstünde, der wüsste im Voraus nicht nur um neueste Strömungen der Kunst, sondern auch um neueste Gesetzesbücher, Kriege und Revolutionen.“B1a,1 3  

In der Passagenarbeit sollte die Bildersprache des 19. Jahrhunderts zum Erwachen kommen. Das unfertige Werk besteht deshalb wesentlich aus Gedankensplittern und Zitaten. Für deren Zusammenstellung hatte Walter Benjamin in den 1930er Jahren Abertausende von Seiten gelesen, Tausende von Fundstücken exzerpiert und im Zuge der Durchsicht der Zitate, spezifische Code-Verfahren („Regestenverzeichnisse“) erdacht, um am Ende irgendwann das längst überbordende Konvolut aus Fakten und Gedankensplittern nach Sach-Kapiteln geordnet zu collagieren. „Paris, Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ hatte das Projekt geheißen, das unvollendet blieb. 40 Jahre nach Benjamins Tod erschien das Werk schließlich 1982 - nach Jahren der Dechiffrierung. „Dies ist kein Buch, das man von der ersten bis zur letzten Seite liest. Aber eines, in dem man lebenslang lesen und lernen kann“, hieß es bei Erscheinen; man könne dieses Fragment gebliebene Buch, „nicht als Steinbruch aus Zitaten“ oder als Zettelkasten-Archiv abtun, denn es ginge von diesen „scheinbar sinn- oder zusammenhanglosen Bemerkungen, Einwürfen, Fragen, Andeutungen eine Energie aus, die der Leser, der hier zum Mit- und Nach-Denker wird, aufnehmen kann.“  4
Von dieser Energie handelt das Plakat, das Patrizia Bach im Rahmen ihrer Abschlussarbeit an der Kunsthochschule Weißensee bei der Zeichnerin Nanne Meyer vorgelegt hat. Sie hat Benjamins verschiedene Arbeitskodierungen für bare Münze genommen und ihr Kunstwerk als „Ultrashort“ der Passagenarbeit angelegt. Hinter diesem DIN A 2 großen nur scheinbar unspektakulären Plakat verbergen sich somit 1380 Buchseiten voller Fundstücke und Gedankensplitter, hinter denen sich wiederum 850 Bücher und Kompendien, also sicher 85 000 Buchseiten Lesepensum verbergen. (Zum Beispiel: „Elisabeth Schinzel : Natur und Natursymbolik bei Poe, Baudelaire und den französischen Symbolisten. Diss. Bonn; Düren–Rhld. 1931.) Wer eine der auf dem Plakat versammelten Ziffern-Buchstaben-Kombinationen im Kopf „anklicken“ würde, bekäme eines der darunter liegenden Fundstücke vors Auge, die Benjamin – à la recherche de revisiter les temps perdus du 19 sciècle perdu - aus den „faits divers“, Klatschspalten, Gesellschaftsstudien, kulturwissenschaftlichen Untersuchungen, Geschichtsbüchern, Zeitungsartikeln, Romanen, Fotografien, wissenschaftlichen Abhandlungen und Kommentaren der Zeit herausgefiltert hätte - in der festen Überzeugung, dass die Bruchstücke menschlicher Existenz aufbewahrt, gerettet werden müssen, bereit gelegt für jede mögliche Neu-Betrachtung durch kommende Generationen, aber auch bereit gelegt, um die vorherrschende Sichtweise der Epoche immer wieder neu dekonstruieren zu können. Seine Zitate stehen Pars pro toto für die ganze verlorene Welt. Er selber hat sie, aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgeschlagen, nackt, „von allem gereinigt, was an ihnen typisch ist“ (Benjamin), ja: freigesetzt, „von der Fron befreit, nützlich zu sein“ 5 . Derart herausgeschlagen, können ihnen ungeahnte Lesarten und Zukünfte zuwachsen.

„Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden." N1a, 8.  6

Walter Benjamin war ganz Kind seiner Zeit. Mit Bertolt Brecht debattierte er, dass das bürgerliche Individuum eine Illusion sei, die es zu demontieren gelte; nicht von ungefähr also rüttelte er in der Passagenarbeit grundlegend an der Idee der Autorschaft und bevorzugte stattdessen ein „Netzwerk von Kreuz- und Querverweisen“. Er las, als schleife er ein Fischernetz über den Meeresgrund der versammelten Fakten und Gedanken; das Wissen der anderen, das sich in seinem Netz verfing, wurde ans Land der Jetztzeit geborgen und gerettet. Zwei Motive vereinigten sich im Schwung seines Netzes: die Illumination der Gegenwart und die Rettung der Zusammengehörigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wie sie der in messianischer Erwartung schwingende Konjunktiv mitteilt - „wer sie zu lesen verstünde“ heißt es oben. 
Wie Scherben eines zersprungenen Gefäßes, die auch als Scherben noch vom verlorenen Ganzen künden, gelten die Fundstücke nicht „der einen Erkenntnis“ des Autors. Benjamin hat vielmehr den Text als einen Raum angesehen, den er den fremden Stimmen zur Verfügung stellt und in dem mittels der Montage, also eines wandelbaren Arrangements, die fremden Stimmen sich gegenseitig hörbar machen und die Gegenwart des Lesenden erhellen. Die Fundstücke weisen das Ideal der Ganzheitsbildung deutlich von sich ab. Die Idee, dass auch ein Text ein performativer Raum ist, in dem die Worte in jedem Moment auch etwas anderes tun können, als der Autor erwartet hat, in dem also die Herrschaft des Autors aufgehoben ist, ermächtigt nicht zuletzt auch den Leser, sich selbst als Handelnden zu imaginieren, der die Geschichte auf immer neue Weise erobern kann. „Lumpen, Abfall“ nennt Benjamin, was Roland Barthes später „Späne des Gegenwärtigen“  nennt. Patrizia Bach hat diese von Benjamin in den 1930er Jahren als „Lumpen“ gesammelten Zitate, die als solche schon eine Kondensierung und Kodierung des ursprünglichen Lektürepensums darstellen, für ihr Kunstwerk weiter kondensiert und so in eine neue Dimension überführt. 

Längst haben wir uns in diesen globalisierten, codegesteuerten Zeiten weltweit darauf verständigt, dass ein schwarzer Kreis in einem schwarzen Kreis auf weißem Grund das Zeichen für Stadtzentrum ist, ob in Petersburg, Jerusalem, Peking, Sao Paolo oder Berlin. Es versteht sich von selbst, dass all das, was uns jenseits dieses Zeichens, im jeweiligen Stadtzentrum also, erwartet, etwas je eigenes und immer anderes ist – Hochhäuser, Kanäle, barocke Stadtensembles, Hügellandschaften. Patrizia Bachs Plakat bringt die Spannung zu Papier, die Codes innewohnt, die Spannung zwischen Übereinkunft (gemeinschaftliche Lesart der Symbole) und Geheimnis (unbekannte Differenzen des im Symbol gemeinsam Repräsentierten). Vor allem aber hat Patrizia Bach in verkürztester Weise und mit rein der Sache inhärenten Mitteln Benjamins ureigenstes Bauprinzip künstlerisch umgesetzt und weitergetrieben: indem sie Buchstaben und Farbsymbole zusammenführt, macht sie deutlich, dass im Wiederlesen der angespülten und herausgefischten Fragmente die „Lumpen“ je nach Leser verschiedene Gedanken, Ideen hervorbringen und vorantreiben und in völlig verschiedene Kontexte hineinwirken können, um im - und aus dem - Vergangenen, wie es bei Benjamin heißt, immer neu „den Funken der Hoffnung“ zu entfachen. 

[1] Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften, V,1, S. 119
[2] ebenda, S. 194.
[3] ebenda, S. 112.
[4] Rolf Michaelis in: Die Zeit, 9. Juli 1982.
[5] Hannah Arendt in Walter Benjamin - Bertolt Brecht. Zwei Essays, München 1986, S. 5.
[6] Walter Benjamin, Passagen-Werk, a.a.O., S. 297.
[7] Roland Barthes, Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France, aus dem Französischen von Horst Brühmann, Frankfurt 2008, S. 151–52

Für alle, die mehr erfahren wollen über die Bildsprache und die Gedankensplitter aus der  Benjaminschen Passagenarbeit, hat Patrizia Bach eine Webseite angelegt und künstlerisch gestaltet, für das Plakat Werbung macht. Und zwar hier:  http://benjamin-passagen.de/