Weitere Beiträge

Marie Luise Knott 


Vom Übersetzen - fünf Annäherungen

in:  "Sprache - Ein Lesebuch von A-Z. Perspektiven aus Literatur, Forschung und Gesellschaft" (hg. v. Colleen M. Schmitz und Judith Elisabeth Weiss im Auftrag des Deutschen Hygiene-Museums Dresden und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung), Göttingen 2016 (im Druck).

Link zur Ausstellung im Deutschen-Hygiene Museum

 

„Es ist eigentlich um
das Sprechen und Schreiben eine närrische
Sache; (...) Gerade das Eigentümliche der
Sprache, daß sie sich bloß um sich selbst
bekümmert, weiß keiner.“  (Novalis)


Translatio. – Im frühen Mittelalter bezeichnete „translatio“ die Überführung von Materialien, Werken und Modellen.  Die „Einbürgerung“ fremder Güter diente damals nicht selten der Gründung, Stabilisierung oder Ausweitung von Herrschaft. Doch nicht wenige der Überführungen waren purer Raub. So sollen die Reliquien des Evangelisten Markus um 828 von venezianischen Kaufleuten unter einer Ladung gepökelten Schweinefleischs versteckt von Alexandria nach Venedig „translatiert“ worden sein. In der Lagunenstadt angekommen, entwickelten die Gebeine ihr Eigenleben – als Stützen des örtlichen Markuskultes. Durch eine Legende legitimiert, begründeten und verkörperten sie fortan Glanz und Glorie der aufstrebenden Seemacht. Als 11 Jahrhunderte später, 1968, ein Teil der Gebeine restituiert wurde, hatte sich das Translatierte selbst längst ununterscheidbar der genuin venezianischen Kultur eingeschrieben.  
 

Aus Übersetzung gemacht.  – Lückenbüßer, Lügenmaul, Nächstenliebe, Feuertaufe, Milch und Honig, ausposaunen, unter den Scheffel stellen, ein Herz und eine Seele sein: Unsere Sprache ist aus Übersetzung/ Translatio gemacht. Luthers Worterfindungen und idiomatische Bilder in der Bibel-Übersetzung sind uns und unserer Sprache eingefleischt. Dies wussten auch die Brüder Grimm, weshalb Jacob Grimm 1845 im Vorwort des „Deutschen Wörterbuchs“ notierte, mit Luther steige „die Fülle und freiere Behandlung der deutschen Literatur“. Dabei hatte Luther selbst erklärt: „Nun sehe ich, dass ich noch nicht einmal die angeborene Sprache kann.“
Gegen die Lehre von der Verbalinspiration Gottes plädierte Luther für ein sinngemäßes Übersetzen. Doch dort, wo es nötig war, nämlich dort, wo die fremde Sprache es besser konnte, als „wir es können“, übersetzte er „straks den Worten nach“. Wie jeder große Sprachschöpfer rang Luther beim Übersetzen mit seiner Sprache, auch wenn sie seine Muttersprache war. Manche Bücher der Bibel las der Theologe und Prediger mit seinen Studenten über mehrere Semester, Silbe für Silbe, Wort für Wort, Satz für Satz – um sich und seinem Volk Gottes Wort und Gottes Stimme endlich in der eigenen Sprache vernehmlich zu machen. 
Die deutsche Sprache war, aber sie hatte sich nicht; Luther musste sie sich und uns finden, manchmal auch erfinden. Dabei erfuhr er: Wer übersetzt, braucht einen „großen Vorrat an Worten“, um dort, „wo eins an allen Orten nicht lauten will“, ein anderes wählen zu können. Der große Vorrat, den Luther sich im Laufe seiner übersetzerischen Tätigkeit „zusammenraubte“, speiste sich aus allen ihm zur Verfügung stehenden Denk-, Sprach- und Klang-Registern – aus Wortschöpfungen, die den „verblümten Worten“ des Hebräischen nachempfunden sind, aus den Gelenkigkeiten hebräischer und griechischer Syntax, aus philosophischen und theologischen Termini, aus lateinischer Sprachweise; darüber hinaus schöpfte er aus dem Wissen und der Lebensweisheit des Volkes und den Klangvariationen der Dialekte. Er schaute dem Volk tatsächlich aufs Maul: den Redensarten, den verschiedenen Dialekt- und Fachsprachen, dem Schatzhaus (trishuset) der mündlich tradierten Volksliedern und –weisheiten. Luther, der Übersetzer, war „vielsprachig (...) in ein- und derselben Sprache“ (Deleuze/Guattari). Der Schriftsteller trifft die Sprache nie zu Hause an. 

 

Hineingewachsen. – Im banatschwäbischen Dialekt von Herta Müllers Kindheit „geht“ der Wind, im Hochdeutschen „weht“ er, während er im Französischen pustet, „le vent souffle“, und im Rumänischen schlägt, „vintul bate“. Auch das Ende des Windes ist verschieden. Im Deutschen legt er sich, im Französischen fällt er, „le vent tombe,“ und im Rumänischen bleibt er stehen „vintul a stat“. So selbstverständlich der Wald im Deutschen männlich ist, so weiblich ist er im Französischen, und so geht der Übersetzer sich plötzlich in einem männlichen und einem weiblichen Sprachwald verloren, läuft plötzlich zwei gleichzeitig laufende Sprachen entlang, die eigene und die fremde. Der Übersetzer, ein Doppelgeher. „Elle se signale“, titelte René Char am 3. September 1939 sein Gedicht über den beginnenden Krieg, der wie auch der Sieg im Deutschen  männlich, aber auf Französisch weiblich in Erscheinung tritt. Übersetzung ist eine „irgendwie vorläufige Art“ (Benjamin), sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen. So vertraut die Sprachen sein mögen, das Übersetzen bleibt vorläufig; alle Sprachen reden schließlich verschieden, und sie schweigen auch verschieden. Und der Übersetzer entführt – translatio – Wald und Wind in fremde Gefilde. 
Übersetzer reisen. Aus Neugier. Sie laufen durch die Fremde, erkunden sich. Mit der Entdeckung des Fremden sickert wie nebenbei das Eigene umso tiefer in sie ein. In der Fremde und in der fremden Sprache erfahren sie, in welchem Maße sie in ihrer „Mutter“sprache, die ihnen bis dato selbstverständlich war, zu Hause sind. Hinzu kommt: Sind Autoren oder Übersetzer erst einmal gereist, schreibt das Fremde in Zukunft mit, weil es ihnen, so Herta Müller, in den Blick „hineingewachsen ist“. 

 

Zweisprachig. – Zu den kulturellen Leistungen die ein Exilant in der Fremde absolvieren muss, gehört das schrittweise Hineingelangen in Sprache, Kultur und Politik des neuen Landes. Die in Königsberg aufgewachsene Philosophin Hannah Arendt war 34 Jahre alt, als sie 1941 in New York landete, die Schreckens-»Botschaft« im Gepäck, dass das Europa der Aufklärung, der Vernunft und der Menschenrechte in Trümmern lag. Arendt, ursprünglich geschult in Griechisch- und Lateinlektüren, praktizierte fortan tätige Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität. Sie baute ihr Haus nicht auf dem Atlantik; ein Aufenthalt in einem Zwischenreich war ihre Sache nicht. „In meiner Art zu denken und zu urteilen komme ich noch immer aus Königsberg. Manchmal verheimliche ich mir das. Aber es ist so. Amerikanerin bin ich sozusagen nur und zugleich von ganzem politischem Herzen.“ Königsberg – das war für sie die Herkunft aus der deutschen Sprache, der jüdischen Kultur und der europäischen Aufklärung.
Gleich Schillers „Mädchen aus der Fremde“ brachte Hannah Arendt nach Amerika fremde Früchte mit – „gereift“ zunächst im Lichte, dann aber im Zusammenbruch der europäischen Geistesgeschichte. Ihre Art, jede Frage „durchzudenken“, also Anschauung und Begriff zusammen zu denken, war ihrem englischsprachigen Publikum fremd, und doch war gerade dieses Beharren auf Begrifflichem und ihre spezifische Art des Durchdenkens das Gebein, das sie in die amerikanische Geisteswelt translatierte. Die Künstler in den USA reagierten. Sie erkannten das Neuartige, das mit Arendts Stimme den amerikanischen Denkraum betrat. Ein Denken mit allen Sinnen und mit begrifflicher Disziplin. „The reader feels and understands at the same time“, formulierte es der Dichter Randall Jarrell.
Zweisprachigkeit, ursprünglich einer Not entsprungen, wurde Hannah Arendt nach und nach zum Quell der Inspiration. Fortan besaßen viele Dinge in ihrem Kopf mindestens zwei Bezeichnungen. In Zusammenkünften mit Jarrell erkundete Arendt das englische Sprachreich: Er las ihr englischsprachige Gedichte vor und eröffnete ihr so eine ganz neue Welt von Tönen und Metren, Klängen und Assoziationen. Er lehrte sie „die spezifische Schwere englischer Worte, deren relatives Gewicht letztlich, wie in allen Sprachen, durch ihren Gebrauch in der Dichtung und die entsprechenden Regeln bestimmt ist“.
Im Mittelpunkt der Debatten, die sie mit amerikanischen Schriftstellern und Übersetzern führte, stand immer wieder die Konsistenz des Begrifflichen. „The German ‚Vorstellung’ is generally best translated with ‚notion’, not with ‚idea’. The word ‚idea’ should really be left for ‚Idee’. Under no circumstances, I think, can you say ‚notion’ for ‚Begriff’. To have translated ‚Begriff’ by ‚notion’ is among the most grievous mistranslations of Hegel. ‚Begriff’ should really be always ‚concept’ or ‚conception’.“
Was macht man als Emigrant, als Übersetzer, als Schriftsteller, angesichts der Tatsache, dass Begriffe im Englischen nicht die gleiche Konsistenz haben wie im Deutschen? Was macht man, wenn man feststellt, dass es unvergleichlich leichter ist, einen philosophischen Tatbestand auf Deutsch zu sagen als auf Englisch; dass sich aber die englische Sprache und bis zu einem gewissen Grad auch die französische Sprache unvergleichlich besser eignen, politisch zu denken?
In Hannah Arendts schriftstellerischem Werk ist die landläufige Vorstellung vom Original nicht mehr gültig. Es gibt sie nicht, die eine, in der Muttersprache verfasste Vision, von der alle übersetzten Fassungen dann Versionen sind. Vielmehr handelt es sich bei der amerikanischsprachigen und bei der deutschsprachigen Fassung ihrer Hauptwerke um jeweils zwei verschiedene, wenngleich nahe beieinander liegende Originale. Ein aus der deutschen und europäischen Geistesgeschichte und aus der Erfahrung des europäischen Zusammenbruchs hervorgegangener Gedanke, der in englischer Sprache das Licht der Öffentlichkeit erblickt und sich im amerikanischen assoziativeren Schreiben verwurzelt hat, wird von ihr selbst in die Muttersprache restituiert. 
Mit jeder Translatio gewinnt das ursprüngliche Objekt neue Bedeutungs- und Assoziationshöfe. Und erweitert seine Reichweite. Auch Arendts Texte aber brauchten Fährleute. Eine der Fährfrauen Hannah Arendts war die Freundin und Autorin Charlotte Beradt. Sie verfasste zunächst, nach Erscheinen der englischsprachigen Ausgabe von „Human Condition“ eine Rohübersetzung  des Werkes. Dieser wahrscheinlich aus Zeitnot erdachte Zwischenschritt erwies sich als Glückskonstellation, denn so konnte der auf Deutsch gedachte, auf Englisch abgefasste und redigierte Text auf dem Weg ins Deutsche einen Zwischenstopp einlegen auf einer unbewohnbaren Insel und – neue Energie schöpfend – schließlich in einer dem Deutschen eigentümlichen Denk- und Sprachbewegung mit ganzer Kraft anlanden. Gleichwohl: eine höllische Angelegenheit. „Der Teufel“, so schrieb Arendt noch 1963 an Karl Jaspers, „sollte die Zweisprachigkeit holen!“ 

 

Lengevitch angeln. – Für Novalis Zeitgenossen war es selbstverständlich, dass jeder Autor (gleich einem Untertan) sich entschließen müsse, welchem Land und welcher Sprache er angehöre. Friedrich Schleiermacher etwa verglich das Schreiben in fremder Sprache mit dem Versuch, auf einem weißen Tuch ohne Erde Kresse wachsen zu lassen. Heutige Sprachbegeisterung geht anderer Wege, denn global gesehen, das weiß man heute, ist Mehrsprachigkeit nicht die Ausnahme, sondern die Regel, ob in Ghana, der Schweiz, England oder Indien.  „ich ging ins tingeltangel, lengevitch angeln“, beginnt ein Text der zwischen Berlin und New York pendelnden Schriftstellerin Uljana Wolf. „wenn es zeit ist für orangen, ist keine zeit, no time at all für nichts. at least they exist, wenn sonst nicht viel ist. (.....) keeps me beschäftigt.“ 
Der Übersetzer ist ein Seifensieder (Pastior), der sprachliche Ingredienzen zur Reaktion bringt, wieder und wieder. Dabei beraubt er das Translatierte seines Kontextes. Und jeder Transport ist eine Verheißung. Uljana Wolf hat nicht sich, sondern den Textraum selbst zum Seifensieder gemacht. Plötzlich gibt es eine Ahnung, dass es das vielbeschworene Jenseits von Babylon tatsächlich gäbe - jenen Augenblick, an dem Sprachen sich nach Jahrhunderten übersetzerischer Anstrengung verbrüdern, und sei es für den Moment eines afrikanischen Rapps oder, wie bei Uljana Wolf, für den Moment eines Gedichts. 

 

Lektüre:

1) Deleuze, Gilles und Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, übers. von G. Ricke und R. Voullié, hrsg. von G. Rösch, Berlin 1980.
2) Knott, Marie Luise, Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt, Berlin, 2011.
3)  Knott, Marie Luise, Brovot, Thomas und Blumenbach, Ulrich (Hg.): Denn wir haben Deutsch. Luthers Sprache aus dem Geist der Übersetzung, Berlin 2015. 
4) Müller, Herta:  Wenn sich der Wind legt, bleibt er stehen, oder: Wie fremd wird die eigene Sprache beim Lernen der Fremdsprache, Festschrift anlässlich der Ausstellung „50 Jahre Goethe-Institut“ im Deutschen Historischen Museum. 
5) Schleiermacher, Friederich: Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens in: Das Problem des Übersetzens, Hans Joachim Störig (Hg.), Stuttgart 1963, S. 38 ff.
6) Wolf, Uljana: Meine schönste Lengevitch, Berlin 2013.