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Marie Luise Knott

Über das Verschwinden – Eine Annäherung an Zeichnungen von Nanne Meyer, in Lufttexte, Katalog, Köln 2003 S. 51–54

 

„Struktur ohne Leben ist tot. Aber Leben ohne Struktur ist nicht wahrzunehmen.“ (aus: John Cage, Silence)


Verschwinden I
Kleinen Kindern gelingt es mühelos: Sie halten sich die Hand vor die Augen und sagen dem Erwachsenen „Lisa weg.“ Sie glauben, sie seien verschwunden, weil sie die Welt vor ihren Augen zum Verschwinden gebracht haben. Wenn sie die Hände von den Augen nehmen, sagen sie: „Wieder da!“ Mit der Zeit werden sie größer. Sie können sich nicht mehr aus der Welt wegdenken und sie können sich auch die Welt nicht mehr wegdenken. Irgendwann ist die Welt um sie herum so selbstverständlich, dass sie sie im Alltag gar nicht mehr wahrnehmen. Sie ist verschwunden.


Verschwinden II 
Hier kommt Nanne Meyers Kunst ins Spiel. Nanne Meyer hält sich nicht die Hände vor die Augen, sondern sielässt verschwinden. Verschwinden-Lassen ist eine ihrer Strukturen, um wahrzunehmen. Denn „... das Nicht-Wahrnehmen ist auch eine Wahrnehmung, und da wir nicht nichts bzw. nichts nicht wahrnehmen können, bleiben wir unruhig“, schrieb sie. In dieser Unruhe hat sie in mehreren Serien das Verschwinden-lassen als Methode eingesetzt („entrümpeln“ nennt sie das) und so ihre Gestaltung des bildnerischen Raums entscheidend geprägt.
1999 nahm sie sich über Jahre gesammelte Postkarten aus den verschiedenen Städten der Welt und begann, diese ganze, allzu selbstverständlich gewordene Bilderwelt von berühmten Stadtansichten, Plätzen, Bauwerken und Straßenszenen vor dem Nicht-mehr-gesehen-Werden zu retten, indem sie sie mit taubengrauer Deckfarbe teilübermalte. Sie „begraute“ sie und wo ein Grossteil der Ansichten im Grau verschwand, sagte sie plötzlich: „Welt da!“ Nun, da die gewohnten Bilder sich in Luft auflösten, stellte sich eine Stille ein und vor dem inneren Auge erstanden plötzlich neuartige Innen- und Aussenräume. Ausgelassenes belebt die Einbildungskraft..


Als Debussy gefragt wurde, wie er komponiere, antwortete er: „Ich nehme alle Töne, die es gibt, lasse diejenigen weg, die ich nicht will, und verwende alle anderen.“ 


Verschwinden III 
1987 begann Nanne Meyer nach einer Italien-Reise einzelne Gegenstände aus der Darstellung der Heiligen Katharina von Siena am Rande eines weissen Blattes wie Fundstücke in einer Vitrine aufzureihen: Schere, Hut, Zange, Bürste, Handtuch, Kelle. Die Heilige Katharina selbst - die Ikone -  der Gegenstand, um den es eigentlich ging, war verschwunden. Geblieben waren Gegenstände, die sie in ihr eigenes Zeicheninventar überführte. Doch Nanne Meyer beließ es nicht dabei. Auch das Errettete ist vor der Gefahr des Verschwindens nicht sicher, und so färbte sie die fertige Zeichnung mit Chinatusche ein. Eigentlich hätte unter der dunklen Farbe alles verschwinden müssen, doch die Gegenstände waren mit wasserunlöslicher Farbe gezeichnet, weshalb es ihnen gelang, dem Verschwinden Widerstand zu leisten. So konnte das, was in der Vergangenheit übersehen wurde, übrig bleiben. „Durch Verdecken werden Schätze freigelegt.“ (Nanne Meyer)
 

„Wenn Körper sich berühren, tritt eine gewisse Abenteuerlust ein. Soll dies nicht der Fall sein, muß Distanz gehalten werden. ... An Stellen, wo Komplikationen  durch Mischung wesensgleicher Dinge entstehen, müssen wir besonders vorsichtig sein. Hier ist die Möglichkeit zur Freiheit, Entgleisung oder zur größten künstlerischen Auswirkung gegeben.“ (Paul Klee)

 

Verschwinden IV 

1988 hat Nanne Meyer eine zwölfteilige Serie gemalt: „12 Zimmer“. Es handelt sich, wie sie selber dazuausführte, um  12 „Sterbe-Lebe-Schreibzimmer“ berühmter Männer. Als Vorlage nahm sie Abbildungen von diesen letzten Zimmern, in denen Männer wie der Duke of Wellington sein Lebensende verbracht hatten. Was bleibt übrig, schien die Frage zu lauten. Alles blieb an Ort und Stelle, doch das meiste verschwand einfach, blieb in der malerischen Wiedergabe ausgespart, machte Platz auf dem großen weissen Papier, damit anderes hervortreten konnte. Wieder  wählte die Künstlerin einzelne Gegenstände, meist sogar Teile von Gegenständen aus: Sofalehnen ohne Sitzfläche, Tischplatten ohne  Beine, Wandleuchten, Vorhangschienen und Bilderrahmen. Als malerische wie poetische Zeichen wurden sie Teil des permanent sich variierenden Meyerschen Gedanken- und Assoziationsinventars. Doch zuallererst hatten diese Gegenstände, die nun zumeist entfernt voneinander aus ihrem Zusammenhang gerissen einfach dawaren, eine unmittelbare gestalterische Konsequenz: Durch Form, Farbe und Platzierung, ja, durch den ganzen Aufbau der Bilder traten sie in eine Kommunikation miteinander. Gerieten in Bewegung. Und diese Kommunikation begründet die eigentliche bildnerische Spannung dieser 12 großen weissen Blätter. Inmitten all des Verschwundenen, schufen die Spuren eine räumliche Struktur, die auch die weisse Fläche, sprich: das Verschwundene dramatisierte. 

 

Auftauchen

Neben den Chancen  des Verschwinden-lassens, des Etwas-weg-Malens, thematisiert das Werk Nanne Meyers implizit immer wieder die Gefahr des Verschwindens genauer: die Labilität dessen, was  auftaucht, was daist. Der Eindruck ihrer Bilder ist sehr direkt von den kompositorischen Elementen geprägt. Kraftfelder und deren Beziehungen zueinander sind dominant. In Anlehnung an Paul Klees Unterscheidung zwischen „Schwerkraft“ und „Schwungkraft“ erscheinen Nanne Meyers Arbeiten in einem besonderen Lichte. Oftmals wählt sie  für ihre Zeichnungen konkrete Sujets und rückt diese auch in ein bildnerisches Zentrum:  Figuren, Köpfe, Gegenstände, Häuser - manchmal sind es auch abstrakte Formen. Doch diesen der „Schwerkraft“ zuzurechnenden Zentren gelingt es nicht,  beherrschenden Eindruck zu hinterlassen. Im Gegenteil, die „Schwungkräfte“ - die Eigenbewegungen des Stiftes oder der Farbe bzw. die Anordnung der Bildelemente selber -  sorgen dafür, dass die Bewegung zur bildprägenden Kraft werden. Sei es weil der zentrale Gegenstand durch die Bewegungskräfte ewingeschnürt und überdeckt wird, sei es, weil er von einer bildnerischen Bewegung mitgerissen wird. Das Statische gerät durch die Bewegung in Gefahr – es droht zu verschwinden. Es zeigt sich in seiner Bedrohtheit. Diese (gesellschaftliche wie individuelle) Erfahrung in der Zeichnung  inszeniert zu haben, macht die produktive Unruhe in Nanne Meyers Zeichnungen aus, die auch den Betrachter nicht in Ruhe lässt.