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Marie Luise Knott 

ÜBERSETZER-NACHLÄSSE: Nomaden der Mehrsprachigkeit
Sprachkünstler erkennen einander: Die Geschichte des Übersetzens ist geprägt von Dialogen und Zusammenarbeit. Nachlässe wie der von Peter Urban geben wertvolle Einblicke in das Handwerk und die Menschen dahinter. Ein Gastbeitrag.

Zum Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

 

Kartoffel, Kartusche, Karzer, Käse, Kismet, klimmern, Klinse, Klitsch, Kloß, Koben, Kunte – so liest man es auf einer der Wortlisten, die sich im Nachlass des Übersetzers Peter Urban erhalten haben. Eine weit sich auffächernde Variation auf den Buchstaben K, semantisch angelehnt an das russische „chlam“, also Kram, Kroppzeug, Krempel – eine Liste zu dem Gedicht „Herren und Knechte im Alphabet“ des Sternsprachendichters Velimir Chlebnikov. Andere Listen treiben ihr Spiel mit der deutschen Silbe „lieb“ oder dem Wortstamm „mach“: Machwerk, Machtmensch, Mögen. Gehören die deutschen Wörter „mögen“ und „Machtmensch“ tatsächlich zur selben Stammsilbenfamilie? Urban fertigte derlei Listen als Hilfsmittel – ein experimentelles Kettenspiel der Sprache, wie es Kinder treiben, um sich unbekannte Sprach- und Weltreiche zu erobern. Tatsächlich ermöglichen konzeptionelle Regeln (hier die Variation auf „K“), auch Fremdes und Unbekanntes in die Sprache einzubürgern. Und nichts anderes hatte Velimir Chlebnikov im Sinn: Wie einst die Dichter des Barock wollte er mit seinen futuristischen Schriftstellerkollegen die russische Sprache erneuern.

Nachlässe von Autoren wie Übersetzern geben zuallererst präzise Auskünfte über die Arbeit an der Sprache, wie sie allen literarischen Werken und eben auch allen Übersetzungen literarischer Werke je verschieden zugrunde liegt. Denn jedes Gedicht, jeder Roman geht je eigene Wege der Entstehung, ist aus je verschiedenen Umwegen und Irrwegen gemacht; in allen großen Kunstwerken stecken – meist unsichtbar – Recherchen, Glossarien und Vorstudien, noch fast jede Miniaturprosa hat ihren eigenen Anlass und ist begleitet von Gesprächen, Parallellektüren und Korrespondenzen. Das gilt für Autoren- wie für Übersetzertätigkeiten.

Es ist in Deutschland seit mehr als hundert Jahren eine Selbstverständlichkeit, Autorennachlässe für die Nachwelt zu sichern, um Auskunft zu erhalten, wie sie lebten, wie sie die Sprache bewegten und sich von ihr und den Zeiten bewegen ließen. Doch auf welche Weise Übersetzer ihrerseits die Kultur und die Sprachkunst geprägt haben und prägen, harrt der Forschung. Und davor: der Archivierung.

 

Jeder Übersetzer hat seine Geschichte
Der Reichtum unserer Sprache und Literatur ist ohne den Austausch mit den Literaturen der Welt nicht denkbar. Doch wissen wir immer noch zu wenig vom übersetzerischen Tun, das sich ja nicht in fertigen Manuskripten und Verlagskorrespondenzen erschöpft. Bislang finden sich Dokumente von Übersetzern (Briefe, Gutachten, Manuskripte, Verträge, Lektorate) meist in Nachlässen von Autoren, Verlagen oder Zeitschriften. Übersetzer bevölkern die Verlagskorridore, wenn man so will. Dass Übersetzer eigene vier Wände haben, im Bergwerk der Sprache eigene Wege und Umwege und Irrwege gehen, dass sie eigene Monologe und Dialoge führen, erkennt man in seiner Bedeutung erst, wenn man ihre Nachlässe studiert.

Jeder Übersetzer hat seine persönliche Geschichte, wie er oder sie zum Übersetzen kam und kommt. Peter Urban, geboren 1941, kam zum Übersetzen als Student. Eigentlich schrieb er damals an seiner Dissertation: „Der Dialog bei Čechov“. Und eigentlich wollte er deshalb 1964/65 zum Studienaufenthalt in die Sowjetunion. Tatsächlich reiste er nach Belgrad, weil es mit der Sowjetunion kein Kulturabkommen gab.

In Belgrad traf Peter Urban eine junge Dichtergeneration, die ihn beauftragte, er solle ihre Werke in der BRD bekanntmachen. In Erfüllung dieses Auftrags machte Peter Urban seine „unbeholfenen ersten Gehversuche in der Übersetzerei“, wie er das nannte. Schnell ging er eigene Wege, zog seine eigene Bahn. Zunächst, von 1966 bis 1968, als Lektor im Suhrkamp Verlag, dann, ab 1969, als Mitbegründer des Verlags der Autoren, wo die ersten Übersetzungen seiner Čechov-Stücke erschienen, die – alsbald viel gespielt – ihm fortan ein finanzielles Auskommen sicherten. Die Sehnsucht nach ästhetischem Aufbruch, die von Mitte der sechziger Jahre an in der Kunst, der Musik und der Dichtung einsetzte, durchwirkt Urbans Briefe und die Reiseberichte jener Zeit, und sie ebnete zahlreichen Gedichtbänden im Laufe der Jahre den Weg. Unnütz hinzuzufügen, dass Urbans Briefe und Berichte kleine, äußerst präzise Autorenporträts enthalten, bundesrepublikanische Literaturgeschichte sui generis. Der Nachlass dieses bedeutenden Übersetzers – er starb 2014 – befindet sich heute in den Beständen des Deutschen Literaturarchivs in Marbach.

 

Mit dem Scheitern lernt man dazu
Was sich aus Nachlässen von Autoren wie Übersetzern herausfinden lässt, sind vor allem jene Materialien, welche, so unsichtbar sie im fertigen Kunstwerk versunken sein mögen, das Werk und die Kunst seiner Zeit gerade in seiner Gestalt erst ermöglicht oder mitgeschaffen haben. Und jene Materialien, welche den Grenzverkehr der Sprachen und Kulturen zeigen. So etwa der Dialog von Peter Urban mit Vladimír Kafka. Kafka, geboren 1931, war Professor für Germanistik in Prag, Übersetzer von Franz Kafka und Verlagslektor. Er übersetzte Franz Mon und Günter Grass (Die Blechtrommel), Friederike Mayröcker und Heinrich Böll. Ein kultureller Botschafter Nachkriegsdeutschlands. In keinem Land war die deutsche Avantgarde bekannter als in der ČSSR.

Gleichzeitig war Vladimír Kafka Vermittler tschechischer Literatur in die Bundesrepublik und Anlaufstelle für Künstler und Kulturinstitutionen in der Zeit des Prager Frühlings – und in der Stille danach. Es muss ein Schock gewesen sein, als er 1970 mit 39 Jahren an einem Hirntumor starb. Klaus Reichert und Peter Urban baten daraufhin hiesige Autoren um eine kleine Trauergabe für die Witwe – die Originalbeiträge haben sich gemeinsam mit einem intensiven brieflichen Sprachaustausch im Nachlass erhalten – ein fast in Vergessenheit geratenes Stück literarischer Nachkriegsgeschichte.

Samuel Becketts Satz vom Scheitern und vom Besserscheitern ist für Autoren wie Übersetzer gemacht. Das Handwerk verfeinert sich. Auf Holzwegen und Irrwegen kristallisieren sich Kenntnis und Sprachkraft. Im Falle von Peter Urban gilt dies besonders für seinen Autor „APČ“ – Anton Pavlovič Čechov. Der war für ihn der Autor seines Lebens. Urban wollte herausfinden, „wie Čechov geht“.

 

Das Echo erwecken
Worin besteht die Spezifik seiner Poetik? Jedes Übersetzen ist, mit Walter Benjamin gesagt, ein Durchbrechen der morschen Schranken der eigenen Sprache. Man muss das Echo des Originals in der eigenen Sprache erwecken. Und zwar je verschieden. Darum besaß Urban für jeden Autor, den er übersetzte, einen eigenen „Schreibtisch“ und je verschiedene Arbeitsmittel. Für die Übersetzung von Čechov beschaffte er sich andere Hilfsmittel als für Chlebnikov. Čechov galt ihm als der große Menschenkenner, ohne dessen Werk Woody Allens Stadtneurotiker kaum vorstellbar wären, wie Urban betont. Selten ist ein Übersetzer einem Werk so systematisch und allumfassend auf den Grund gegangen.


Er besaß kleine Karteikarten, mit denen er die Lexik synchronisieren wollte; größere Karteikarten, auf denen er die deutschsprachigen Aufführungen aller Čechov-Stücke seit 1899 zusammenführte. Daneben besaß er riesige Foto-Ordner. In unzähligen Anläufen versuchte Urban, wieder und wieder, in seiner Sprache das Echo von Čechov zu erwecken. Er recherchierte, erweiterte, revidierte und perfektionierte zudem die eigenen Übersetzungen wieder und wieder. Er schuf sich immer neue Ordnungssysteme und Anmerkungsapparate. Nach und nach entstand wie nebenbei ein großartiges Panorama von Čechovs Zeit.

Bei Velimir Chlebnikov (1885 bis 1922), dem Entdecker neuer poetischer Kontinente, sah die Arbeitsweise und entsprechend das Material in Urbans Nachlass anders aus. Chlebnikovs Experimente – „raus aus der Sprache“, die allzu lange auf Sinn und Repräsentanz ausgerichtet gewesen war – trafen bei den deutschsprachigen experimentellen Dichtern Ende der sechziger Jahr auf offene Ohren. Chlebnikovs Generalüberholung der Poesie, genauer: der Sprache der Poesie, passte grandios in die Zeit, wie man dem Dialog in Briefen und Manuskripten mit Chris Bezzel, Paul Celan, Friederike Mayröcker, Otto Nebel, Oskar Pastior und Gerhard Rühm, mit Enzensberger, Arno Schmidt oder dem amerikanischen Futurismus-Experten Markov entnehmen kann.

 

Gemeinschaftsprojekte
Die Wortkünstler erkannten einander. Deutlich wird auch: Die große Neuerung, mehrere Übersetzungen eines Gedichtes nebeneinander zu veröffentlichen, war keineswegs von Anfang an geplant. Ein kollektives work in progress, wie ein Brief von Peter Urban an Paul Celan deutlich macht: „Jetzt haben wir von einem Gedicht schon drei Versionen und, eine ist, ganz wörtlich genommen, besser als die andere, das heißt die anderen, und doch hätte ich gar nichts dagegen, in einzelnen Fällen, nämlich da, wo es die vorliegenden Übersetzungen rechtfertigen, mehrere Versionen eines einzigen Gedichtes nebeneinander zu stellen.“ So kam es.

Die legendären Aufschlüsselungen der Chlebnikov-Gedichte, die Urban zusammen mit der Slavistin Rosemarie Ziegler für die beteiligten Nachdichter angefertigt hatte und die sich teils bei Urban, teils in anderen Nachlässen wiederfanden, ergeben zusammen mit der Korrespondenz zur Verlagsodyssee (erst wollte Suhrkamp, dann Rowohlt, dann wieder Suhrkamp, und am Ende erschien die Ausgabe tatsächlich bei Rowohlt) ein präzises Bild der Entstehungsgeschichte dieser avantgardistischen kollektiven Großleistung.

„Für mich“, sagte Peter Urban einmal, „war und ist das Übersetzen immer noch die genaueste, intensivste Art zu lesen, egal, ob ich es mit einem älteren oder alten Text zu tun habe oder ob ich einen Zeitgenossen übersetze.“ Tatsächlich geben die Karteikästen, die annotierten Bücher wie die Fotosammlungen, die vielen projektbezogenen Materialkisten und Briefkonvolute sowie die zahllosen Leitzordner, die jetzt in Marbach liegen, Aufschlüsse darüber, was es mit seiner „genauesten, intensivsten Art zu lesen“ auf sich hat und wie – richtiger: wie verschieden – ein und derselbe Übersetzer die eigene Sprache bewegt, um fremde Werke in ihr anzusiedeln.

 

Auch in Zukunft auf hohem Niveau
Literarisch-übersetzerische Nachlässe geben Auskunft über zweierlei: Zum einen sind Übersetzer Sprachschöpfer, und die Nachlässe geben Auskunft über die gelungenen und verworfenen Arbeitswege, die alle – im Resultat unsichtbar – zur Entstehung eines übersetzten Kunstwerks beitragen. Zum anderen sind Übersetzer Kulturbotschafter, oft auch Trüffelschweine, und ihre Nachlässe geben Auskunft über die Netzwerke, in denen die Kunst einer Zeit sich formt. Das je spezifische und je verschiedene Ringen um „repräsentatives Verstehen“ und angemessene Gestalt ist voller Monologe und Dialoge, konzeptioneller Fragen, produktiver Irrtümer. All dies nachzuverfolgen erhellt den Vorgang des Übersetzens, ja: der Sprachfindung an sich.

Was können Archive tun, wie können sie ihre Sammlungspolitik bewegen, damit Übersetzernachlässe in ihr „Beuteschema“ passen? Wir leben in einer Hochzeit der Übersetzungskunst und der Übersetzungskultur, deshalb steht die Frage im Raum: Auf welche spezifische Weise können Archive ihre Sammlungsschwerpunkte weiterentwickeln, damit sich in ihren Suchnetzen mehr Übersetzernachlässe verfangen? Die jetzige Generation literarischer Übersetzer ist besonders wichtig? Nicht nur, weil wir in einer Übergangszeit leben – von der papiernen in die digitale Ära. Vor allem aus einem anderen Grund: Wir sind derzeit eine Ankunftskultur. Hier wird viel übersetzt. Und das Niveau ist hoch. Dieses Wissen gilt es zu bewahren.

Zeitgenossen sind bekanntlich blind, doch sie sind es, welche die Archive für die Zukunft bestücken. Und bei aller Blindheit: Wir können aus der Geschichte lernen. Zum Beispiel von Martin Luther, nicht dem Glaubensreformator, sondern dem Spracherneuerer. Als Luther an der Bibelübersetzung arbeitete, schickte er zwei Leute aus, die Sprüche der Handwerker und Landarbeiter zu erkunden, dem Volk aufs Maul zu schauen. Deren Rhythmen, so weiß man dank des Nachlasses, fanden Eingang in seine heiligen Texte.

 

Übersetzer sollten sich wichtiger nehmen
Längst ist bekannt, in welchem Ausmaß Übersetzer und Schriftsteller Sprache und Kultur ihres Landes prägen. „Jedes Gedicht spricht viele Sprachen“, hat Uljana Wolf kürzlich gesagt. Tatsächlich sind Autoren wie Übersetzer Nomaden der Mehrsprachigkeit. Ihre literarischen Nachlässe bieten Material, unsere Vorstellung vom Entstehen und Ringen der Sprachen und die Möglichkeit des Miteinanders der Sprachen zu vertiefen; späteren Generationen können die Dokumente helfen, sich mit ihren eigenen Fragen neue Wege durch die Geschichte von Sprache und Literatur zu bahnen.

Viele Autoren übersetzen, manche aus Broterwerbs-, die meisten aber aus Sprachneuerungsgründen. Rilke übersetzte Valéry, Valéry übersetzte Rilke, Rilke übersetzte Elizabeth Barrett Browning, Goethe seinen Shakespeare und so weiter. Die Liste ist endlos. Man denke in jüngerer Zeit an das Duo Peter Handke und Georges-Arthur Goldschmidt, an Jan Wagners Sweeney oder Uljana Wolfs übersetzerische Auseinandersetzung mit translingualen Dichtern. Was braucht man nicht alles fürs Selbstschreiben.

Was Übersetzer bräuchten, wäre ein wenig mehr Hochstapelei; sie müssten sich wichtiger nehmen. Über Erfindungsreichtum allerdings verfügen sie in großen Mengen. Die Wendung vom „Sonderfall des Selbstschreibens“ stammt aus Oskar Pastiors Essay „Mein Chlebnikov“. Darin erzählt Pastior – geschult an der Wirklichkeit des sozialistischen Rumäniens –, dass er die Aufweichung des normativen Denkens seiner relativen Mehrsprachigkeit, seinem eklektischen Germanistikstudium und seiner Liebe zu barocker und experimenteller Literatur verdanke. Übersetzen sei ein Sonderfall des Selbstschreibens, denn Übersetzen sei „ein Experiment“, dessen „einmalige Anordnung“ eine dem jeweiligen Projekt zugehörige Ästhetik generiere. Jeder Autor bekam bei Urban einen eigenen Schreibtisch, jeder Text „generierte“ bei Urban auch im Deutschen einen eigenen ästhetischen Eindruck.

 

Marie Luise Knott ist Vorstandsmitglied des Deutschen Übersetzerfonds. Der Text ist die leicht gekürzte Fassung eines Vortrags, den sie kürzlich in Marbach auf der Tagung „Übersetzernachlässe in globalen Archiven“ gehalten hat.