Weitere Beiträge
Marie Luise Knott
Niemals sollte die Welt dies erfahren
Zwei Editionen präsentieren Zeugnisse von Mitgliedern des Sonderkommandos Auschwitz
Zur Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Die Menschheitsgeschichte kennt wohl kaum eine Geschichte, die zu berichten schwieriger wäre. Die Ungeheuerlichkeit der Taten hat alle Kategorien zerstört, jedes Sprechen in Frage gestellt. Und dennoch gibt es Berichte. Einer stammt von Salmen Gradowski. Im Jahr 1909 oder 1910 in Suwaki geboren, wurde Gradowski im Dezember 1942 aus dem Sammellager Kielbasin bei Grodno nach Auschwitz deportiert und dort nach seiner Ankunft ins Sonderkommando selektiert. Anfang Oktober 1944 beteiligte er sich an einem Aufstandsversuch und kam dabei ums Leben.
Die Mitglieder des Sonderkommandos hatten die Pflicht, die eigenen Leute in die Entkleidungsräume und von dort in die Gaskammern zu führen; später brachten sie die Toten aus den Gaskammern in die Verbrennungsöfen. Sie waren vom Rest des Lagers abgetrennt und erhielten Sonderrationen. In Abständen wurden sie liquidiert, denn niemand sollte diese Welt einst bezeugen können. Die Aufzeichnungen, die sich erhalten haben - Briefe, Statistiken, Berichte, Dokumente -, entstanden in Erwartung der bevorstehenden eigenen Vernichtung und in der Hoffnung auf das Nahen der Roten Armee. Sie wurden in Flaschen gesteckt, die, mit Wachs verschlossen, in der Erde neben den Krematorien vergraben wurden. Zeugen zufolge sollen es insgesamt über dreißig Behälter gewesen sein; bis heute wurden neun gefunden.
Wer eine Flaschenpost vergräbt, tut dies in der vagen Überzeugung, es gebe Hoffnung - wenngleich nicht für ihn. Und auch Gradowskis Aufzeichnungen beziehen einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Energie aus der Vorstellung einer postnazistischen Zukunft. Sie sind an einen Finder adressiert. Wieder und wieder richtet sich ihr Autor eindringlich an ein fiktives Gegenüber ("Komm, mein Freund, lass uns einen Gang durch die fahrenden Käfige tun"). Die an Litaneien erinnernden Wiederholungen der Absatzanfänge erhöhen den Eindruck des Gesprochenen, etwa wenn Gradowski mit "Sitzt da jetzt" Porträts einzelner Frauen und Männer beginnt.
Gradowskis Sprache ist unidiomatisch, dem Schweigen abgerungen. Immer wieder versucht er, obwohl sich alles jedem Verstehen entzieht, dem Erlebten Sinn abzutrotzen. Dabei weiß er: "Die Routine der systematischen Vernichtung unseres Volkes, in der ich jeden Tag lebe, überschreitet und verwirrt jedes individuelle Unglück." Es gibt keine Sprache für das Erlebte. Alle Wörter, Bilder, Begriffe signalisieren Verbundenheit mit einer Welt, die es für sie nicht mehr gibt. In seiner Hilflosigkeit nennt Gradowski die Nazis "Piraten", manchmal auch "Satane".
Der Titel des Bandes, "Die Zertrennung", trifft ins Zentrum der Erfahrung - der Erfahrung nämlich, von allem nach und nach abgetrennt zu werden: zunächst von allem früheren Leben, vom Rest der Menschheit und von jedem zwischenmenschlichen Miteinander. "Du wirst nach diesen grausamen Bildern nicht mehr leben wollen in einer Welt, wo solch teuflische Taten geschehen", liest man, und an anderer Stelle heißt es, mit dem Schreiben solle ein "flackerndes Flämmchen der Menschlichkeit" erhalten werden. Geht das? Hier zumindest, in seinen Aufzeichnungen, verteidigt Gradowski die menschliche Fähigkeit zur Freiheit - zur Freiheit des schreibenden Ausdrucks.
Von den zwei Aufzeichnungen, die sich erhalten haben, handelt die erste von den Zuständen im Sammellager Kielbasin und von der Deportation nach Auschwitz. Gradowski beschreibt, wie die Nazis die Juden bei der Ankunft zwangen, über den Boden zu kriechen. Ein Detail nur, doch es erinnert einen an Hannah Arendts Beschreibung, dass die Nationalsozialisten in zwei Etappen vorgingen, zunächst ermordeten sie die juristische, dann die moralische Person. Bei jeder Etappe der Demütigung und Entmenschlichung machten sich die Opfer noch Hoffnungen, weil sie ihr menschliches Wesen noch nicht ganz abgestreift hatten. Wenn anfangs die Ältesten mit einem Sack herumgehen und die Frauen allen Schmuck, alles Hab und Gut hineinwerfen, hegen sie bei Gradowski die Hoffnung, es handele sich vielleicht um eine Art Lösegeld, das die Trennung der Familie verhindern solle. Als nach der Ankunft in Auschwitz die Frauen und Kinder in Lastwagen fortgefahren werden, wünscht sich jeder der Männer einzureden, den Schwachen sollte der Weg in die Baracken erleichtert werden.
In der zweiten Aufzeichnung berichtet Gradowski von zwei Ereignissen: zunächst von der Vernichtung des tschechischen (Theresienstädter) Familienlagers am 8. März 1944, dann von der Teilliquidierung des Sonderkommandos am 14. Februar 1944. Er schildert, wie die Nationalsozialisten die erste Aktion generalstabsmäßig vorbereiteten, weil sie Widerstand befürchteten. Doch anders als erwartet, so der Bericht, geschah nichts, wohl aus Sorge um mögliche Folgen für die eigenen Familien. Man wusste ja nicht, was bevorstand. Am Ende gingen die Opfer singend ins Gas - mit der Internationale, mit der tschechischen Nationalhymne und mit der HaTikwa, der Hymne der zionistischen Bewegung.
Zeitgleich mit der Veröffentlichung von Gradowskis Aufzeichnungen ist ein weiteres Buch mit und zu den Aufzeichnungen von Mitgliedern des Sonderkommandos Auschwitz erschienen. Autor ist der russische Historiker Pavel Polian. Im Jahr 2013 versammelt er in einer Monographie acht Texte, die sich erhalten haben. Neben Gradowskis Beiträgen (den beiden weitaus längsten Dokumenten) enthält der Band Berichte von Lejb Langfuss, Salmen Lewenthal und Abraham Levite, ferner Briefe von Herman Strasfogel und Marcel Nadjari. Einer von ihnen schrieb über den ethischen Abgrund und das Grauen vor sich selbst: "Warum mangelt es uns an Mut, unserem Leben ein Ende zu setzen . . . Warum sind wir nicht einmal wie die Tiere, die protestieren, wenn ihnen die Angehörigen genommen werden?"
Die beiden Bände sind von der Anlage her äußerst verschieden. Die Einzelpublikation von Gradowskis Aufzeichnungen ist von unaufdringlicher Akribie, die umso mehr überzeugt, als sie sich ganz dem Textkorpus verpflichtet weiß. Die Aufzeichnungen wurden neu entziffert und aus dem Jiddischen übertragen - mit einem besonderen Augenmerk auf die Eigenart von Gradowskis Sprache, die als "daijtschmerischer Stil" beschrieben wird.
Anders bei Polian: Hier wurden die Dokumente in erster Linie als historische Belege für die eigene Forschung herangezogen, allen voran für die historische Aufarbeitung der Sonderkommandos und der Aufstandsversuche. Dass man sich entschloss, für die deutsche Ausgabe die Aufzeichnungen fast alle nicht aus der Originalsprache (Jiddisch, Französisch . . .) zu übertragen, sondern den Umweg über die russische Übersetzung ging, ist schlicht unverständlich. So steht bei Polian statt "Zertrennung" nur "Abschied", und wenn es in der von Aurélia Kalisky herausgegebenen Ausgabe an einer Stelle heißt: "Jeder macht seine Seelenbilanz", steht bei Polian: "Jeder rechnet mit dem Leben ab."
Was beide Ausgaben eint, ist der historische Auftrag. Jeder der hier edierten Texte hat eine eigene Rettungsgeschichte, und viele mussten mehrmals gerettet werden. Alle sind sie mühsam der Unentzifferbarkeit abgetrotzt. Der Textkorpus von Gradowski enthält viele Passagen, die bei Polian noch fehlen. Doch noch immer sind die Zeugnisse durchsetzt von Auslassungs-Klammern, die stellvertretend vom Verschwundenen künden.
Salmen Gradowski:
"Die Zertrennung". Aufzeichnungen
eines Mitglieds des Sonderkommandos.
Hrsg. von Aurélia Kalisky unter Mitarbeit von
Andreas Kilian, aus dem Jiddischen von
Almut Seiffert und Miriam Trinh.
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 354 S., Abb., geb., 25,- [Euro].
Pavel Polian: "Briefe aus der Hölle". Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz.
Aus dem Russischen von Roman Richter, bearbeitet von Andreas Kilian. Wbg/Theiss Verlag, Darmstadt 2019. 632 S., geb., 48,- [Euro].