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Marie Luise Knott


"Für eine bessere Zukunft. Die wundersame Reise eines Äthiopiers in das Wiederaufbaudeutschland“, in: Mit anderen Augen. Deutschland in den 1960er Jahren, Fotografien von Johannes Haile, Institut für Auslandsbeziehungen, 2016,  S. 21–31.

 

1962 reist der äthiopische Fotograf Johannes Haile (1927–2016) im Auftrag der Deutschen Botschaft nach Deutschland: In die Bundesrepublik und nach Berlin. Was für Erwartungen hatte er? Wer und was erwartete ihn dort? Betrachtet man die Bilder seiner Reise, begegnet man Hunderten von Geschichten, und jedes Mal einer andere Facette vom Leben in dieser jungen Republik, 1964 eröffnete der Deutsche Botschafter und der äthiopische Kaiser die Ausstellung in Addis: „An Ethiopian sees Germany“ lautete der Titel.

 

Zur Vorgeschichte
Als Haile Selassie, die kaiserliche Hoheit aus Abessinien, 1954 als erstes ausländisches Staatsoberhaupt die junge, außenpolitisch isolierte Bundesrepublik besuchte, erschien er in traditioneller Kopfbedeckung samt Löwenschweif. Auf der Bonner Rheinbrücke warteten zu seinem Empfang Elefanten und Affen des Zirkus Hagenbeck. Dabei war er gekommen, um sein Land zu modernisieren, mit deutschem Know-How, mit Waren und Krediten. Er besichtigte Stahlwerke, Krankenhäuser, Pferdezuchtanstalten. Als Sicherheit für die gewünschten Investitionen bot er die Bodenschätze seines Landes – allen voran das Uran. 
Die Äthiopier sind ein stolzes Volk mit einer jahrhundertealten christlichen wie landwirtschaftlichen Tradition. Ein feudales Reich, das bis auf eine kurze Besatzung durch Mussolinis Truppen (1935–1941) seine Unabhängigkeit zu verteidigen wusste. Seine Majestät, Haile Selassie, muss ein manischer Herrscher gewesen sein. Um seinem Traum, der Modernisierung Afrikas und der Gründung der Vereinigten Staaten von Afrika, näher zu kommen, machte er Addis Abeba ab Ende der 1950er zur panafrikanischen Drehscheibe. 1963 wurde im kreisrunden Plenarsaal der Africa Hall die Organisation der afrikanischen Einheit, OAU, der Vorläufer der heutigen Afrikanischen Union (AU), gegründet. 
Die spezielle Verbundenheit des äthiopischen Kaisers mit Deutschland, die sich einem Waffenkredit Adolf Hitlers verdankte, kam der jungen isolierten BRD in den Zeiten der Hallstein-Doktrin sehr zupass, und so engagierte die Deutsche Botschaft in Addis 1962 einen äthiopischen Fotografen, der Deutschland bereisen und porträtieren sollte. Die geplante Ausstellung sollte die Freundschaft festigen, die internationale Anerkennung der BRD vorantreiben und lukrativen deutsch-afrikanischen Wirtschaftsbeziehnungen den Weg bahnen. Selassie persönlich hielt bei der Eröffnung, 1964, eine Ansprache vor dem meist diplomatischen Publikum. 


Der Hof-Fotograf 
Johannes Haile, laut Pass am 22. August 1927 in eine äthiopisch-christliche Noblen-Familie hineingeboren, muss schon in jungen Jahren sein gewinnendes Wesen gehabt haben. Ausgerechnet bei den Italienern, die von 1935 bis 1941 sein Heimatland, das Kaiserreich von Abessinien, grausam besetzt hielten, lernte er als Schüler das Fotografieren, Entwickeln und Ausbelichten. Als Mussolinis Truppen 1941 vertrieben wurden, ließen sie ihm die Kamera zurück.
Anfang der 1950er Jahre ging Johannes Haile zum Studium in die USA, wo er mit dem Fotoreportage-Konzept des Life-Magazins vertraut wurde: ‚Das Leben betrachten, die Welt anschauen. Augenzeuge großer Ereignisse sein. Die Werke der Menschen betrachten. Sehen, beobachten, staunen und sich verblüffen lassen.‘ Nach seiner Rückkehr eröffnete er ein Porträtstudio im italienischen Viertel von Addis. Seine Visitenkarte krönte das kaiserliche Wappen: Johannes Haile, Official Court Photographer to M. I. Majesty Haile Selassie 1st., Addis Ababa. Wer damals in der Hauptstadt etwas auf sich hielt, posierte in seinem National Foto Studio. Johannes Haile hatte Teil am Aufschwung seines Landes und am Aufbruch in die Moderne: Ab Ende der 1950er Jahre fotografierte er im Auftrag der UN landwirtschaftliche Entwicklungsprojekte, später begleitete er UN-Missionen im Kongo, in Kenia, Sambia und Mauritius. In diese Zeit fällt auch seine Deutschlandreise.
Angesichts der sich ausbreitenden Schrecken von Hunger und Not in Äthiopien überwog Ende der 1960er Jahre international die Kritik am König der Könige. Auch die Aufträge des Hof-Fotografen gingen zurück. Darüber, wie es ihm, dem Bruder des letzten kaiserlichen Außenministers, nach dessen Sturz 1974, unter dem Terror des Mengistu-Regimes, ergangen ist, davon sprach Johannes Haile ungern. „Och“, sagte er nur und zuckte die Schultern. Diese Vergangenheit hatte er sich abgestreift. Die Negative, die er besaß, hat er bis auf die der Deutschlandbilder alle verbrannt.

 

Sieben Wochen Deutschland
Am 23. August 1962 landete Johannes Haile in Frankfurt am Main, flog aber weiter nach Kopenhagen. Eine Woche später, am 30. August, landete er in Berlin-Tempelhof, von dort ging es wenige Tage danach über die Autobahn wieder gen Westen. Mitte Oktober flog er über Rom und Kairo nach Addis zurück. Sieben Wochen Deutschland. Haile reiste im Auftrag der Deutschen Botschaft und hatte durch seine Mitgliedschaft im Äthiopischen Rotary-Club verschiedene Kontaktadressen im Gepäck. Ferner traf er afrikanische Studenten-Gruppen in Deutschland. Getreu der Life-Philosophie wollte er mit seinem Apparat das bundesdeutsche Leben erkunden, die Arbeitswelt, die Landwirtschaft, die menschlichen Begegnungen und den Feierabend, sowie das Leben der Schwarz-Afrikaner in der Bundesrepublik – im Hotelwesen, am Hochofen, im Warenhaus und in den chemischen Labors.


Wie für jeden Staatsgast hatte Inter-Nationes, eine Organisation, die 1951 zur Pflege des Deutschlandbildes im Ausland gegründet worden war, im Auftrag des Presse- und Informationsamtes seine Route geplant und die Reise organisiert. Sie brachten ihn in die Montagehallen von Wolfsburg, in ein Stahlwerk im Ruhrgebiet, nach München und zum Oktoberfest, zum Rhein und zur Weinprobe nach Rüdesheim. Die Nonnen neben dem Kölner Dom, die Heidelberger Altstadt und der Hochstand am Brandenburger Tor samt Mauer und Todesstreifen gehörten 1962 ebenso zum Vorzeige-Wiederaufbau-Deutschland wie das Alpenvorland, das Zonenrandgebiet, und die Brücke der Einheit genannte Glienicker Brücke, auf der später Spione zwischen Ost und West ausgetauscht wurden.


Alles in der Bundesrepublik war anders als Zuhause. Die Menschen und Kühe waren wohlgenährt und beleibt; die Affen lebten hinter Gittern; die Menschen arbeiteten schweigend, auf ihr Tun konzentriert und (land)maschinenbewehrt. Auf den Märkten riesige Stände voller Obst und Gemüse, in den Städten modernste Warenhäuser, in denen es alles zu kaufen gab. Doch in München traf er auf einen ‚Volksstamm‘, bei dem die Männer, wie zuhause, mit nackten Beinen tanzten. 
Auf den Deutschlandbildern sieht man viele kleine Life-Geschichten:  moderne Frauen, zupackende Männer, wissbegierige Kinder, herausstaffierte Paare - bei der Arbeit, beim Einkauf, beim Spiel, in der Gaststätte oder auf dem Ausflugsdampfer. Auf einem Bild thront ein Bauer stolz mit seinem Jungen auf einem großen Traktor; auf einem anderen schaut eine Arbeiterin in der VW-Montagehalle fesch und selbstgewiss aus dem Rückfenster eines Käfers. Keine Spuren der Ermüdung durch Akkordarbeit. Auf wieder einem anderen Foto sitzt eine Hausfrau im üblichen Kittelkleid verlegen lächelnd mit ihren zwei schwarzhäutigen Mietern am Küchentisch. Sie alle lassen sich von Hailes freundlichem Temperament gerne gewinnen.

 

Als wäre nichts gewesen
Die NS-Zeit war 1962 Vergangenheit und doch allgegenwärtig. Überall Spuren von Schuld, Scham und Schrecken. Auch in den Bildern sind sie präsent. Unsichtbar. Auf einem Bild steht ein junges Paar elegant gekleidet vor einem Hauseingang in Berlin-Charlottenburg. Zahnarzt Paul Albu, Röntgen prangt auf dem Praxis-Schild an der Hauswand. Paul Albu war ein deutscher Jude, der 1933 seine Zulassung verloren hatte. Wie er die Schoah überlebte, darüber wissen die Archive nichts, doch ab 1958 ist Albu wieder im berliner Telefonbuch zu finden, und 1962, als wäre nichts gewesen und nichts dabei, richtete er 1962 den Deutschen wieder das Gebiss.

Auf anderen Bildern von Johannes Haile sieht man feuchtfröhliche Männerrunden, die damals ihren Part an der Schuld oft mit allzu heiterer Weinseligkeit überschwiegen. Doch von all dem musste der Fotograf nichts ahnen. Er hatte ein großartiges Gespür und einen präzisen Blick. Er sah, was er sah. Er wollte vor allem sehen und staunen, was sich seine Landsleute von diesem deutschen Leben absehen konnten. Von dem Blinden in der Straßenbahn, von den starken Frauen ebenso wie von dem zahnlosen Gleisarbeiter. So konnten sich die Menschen ihm freier zeigen, als sie es vielleicht tatsächlich waren, denn Johannes Haile hegte keinen Verdacht. Sein Vorschuss an Freundlichkeit war ungetrübt. Auf einem Foto sieht man eine stämmige Bäuerin, die im Kittel eine kräftige Kuh melkt; auf dem nächsten hat sich dieselbe Bäuerin stadtfein gemacht. Das waren sie, die multiplen Möglichkeiten der Moderne. Der Wohlstand, den Kaiser Haile Selassie damals laut propagierte, hier erstand er aus Ruinen, hier hatte er ein Gesicht - Hochhäuser, Hochöfen, Steckfrisuren, Schlipse und Stöckelschuhe; dazwischen skurile Figuren: Halbstarke, Langhaarige oder Lotterieverkäufer.
Die Bundesbürger präsentierten sich dem dunkelhäutigen, geduldig lächelnden Fotografen, wie er sie sah, richtiger noch: Sie zeigten sich ihm so, wie sie gesehen werden wollten - alle miteinander Darsteller des große humanen Schauspiels ‚Wohlstand - weltweit‘.


Während der fotoform-Fotograf Peter Keetsman damals die serielle Formschönheit von Regentropfen wie VW-Kotflügeln ins Bild setzte und die schöne Verdinglichung des Lebens im Industriezeitalter pries, porträtierte Johannes Haile - das hatte er in New York gelernt – das menschliche Miteinander, er entdinglichte‘ die Beziehungen. Der Fortschritt, wie Johannes Haile ihn sah, war von Menschen und für Menschen gemacht. 

 

Geteilte Erinnerungen
Ohne Fotos, schreibt der Dichter Andreas Altmann, ohne Fotos „würden die Erinnerungen nur mir gehören“. In den Bildern von Johannes Haile werden Erinnerungen wach und neu geteilt - die Erinnerung an die Ortschaft Alversdorf etwa, einem Dorf im Zonenrandgebiet. Schon in den 1920er Jahren war beschlossen worden, dass das Dorf dem Braunkohleabbau weichen solle. Ab 1943 durften keine neuen massiven Gebäude mehr errichtet werden, und im Jahr 1962, als Johannes Haile nach Deutschland reiste, wurde gerade der Tagebau erschlossen. Hier kamen die neueste Generation hochtechnisiertester Schaufelradbagger zum Einsatz, Arbeitsplätze entstanden. Vom Preis des Fortschritts, nämlich davon, dass der Ort dem Tod geweiht war, ahnt man auf den Fotos nicht. Oder doch?
Erinnerungen sind ein merkwürdig Ding. Die lebhafteste Erinnerung, die Haile von seiner Reise behalten hatte, war sein Tag in Ost-Berlin. Während seines Westberlin-Aufenthaltes beschloss er, auf eigene Faust und mit seinem Laissez-Passer der UN in der Tasche, auch nach ‘Pankow‘ zu reisen, wie das ‚Drüben‘ damals hieß. Wie mochte es dort aussehen? Er fuhr hinüber, weil er wissen wollte, ob es stimmte, was man hörte: dass es ‚dort‘ nichts zu kaufen gab und dass Fotografieren dort mit Gefängnis geahndet wurde. Liebend gerne wäre er verhaftet worden – diese Erfahrung hätte ihn, den weltläufigen Äthiopier, sehr interessiert. Bei dem Gedanken daran lachte er verschmitzt, beugte sich vor und kreuzte die Hände vor seinem Körper, als habe ihm jemand Handschellen angelegt.


Trotz aller Warnungen von Passanten fotografierte er im Ostteil: die Mauer, das Grau der Straßen, die gespenstische Leere auf Unter den Linden, die Menschen im Regen, die Ruinen des Schinkelschen Schauspielhauses, die unscheinbaren Schaufenster und die Neubauten am Frankfurter Tor mitsamt dem an der Ampel befestigten Lautsprecher: Für eine bessere Zukunft, richten wir die Heimat auf! 

 

Der zerschossene Heilige 
Einladend groß prangte 1964 in Addis Abeba auf dem Werbeplakat für die Ausstellung und auch im Eingang der Ausstellung selber das Foto einer Trümmerfigur. An Ethiopian sees Germany lautete der Titel der Schau.

Das Plakat erzählte vom Ausmaß der Kriegszerstörungen; die Ausstellung selbst hingegen zeigte das quirlig moderne Leben und Bauen der Nachkriegsbundesdeutschen. Der zerschossene Heilige hieß die spätbarocke Trümmerfigur damals im  internen Botschaftsbericht.Tatsächlich stand das Original in seiner ganzen Grazilität bis in die 1980er Jahre hinein im Ostportikus des stark kriegsgeschädigten Deutschen Doms auf dem damaligen Platz der Akademie, der heute wieder Gens D’armen-Markt heißt. 


Die Entscheidung, ausgerechnet dieses (Ost-) Motiv auf die Einladungskarte und auf das Ausstellungsplakat zu setzen, dürfte mit Bedacht erfolgt sein. Denn neben der Trümmerfigur dürften die Errungenschaften der Nachkriegszeit – samt Hochhaus, Konsum und Henry-Moore-Skulptur - umso verheißungsvoller ausgesehen haben. Für eine bessere Zukunft!, liebe Landsleute!, riefen seine Fotos in Addis von den Wänden! 

 

Persönchen, Persönchen
Die Deutschlandbilder des Äthiopiers stoßen im hiesigen, heutigen Betrachter etwas an, was Roland Barthes einmal das „bestimmte Eine“ genannt hat. Eine Fotographie sagt er, „ist immer die Verlängerung der spezifischen Geste, die besagt: das da, genau das, dieses eine ist’s!“ Dieses Eine – das sind auf den Bildern von Johannes Haile sehr oft gerade die Details, die Accessoires der Kleidung oder auch wie zufällig eingefangene körperliche Gesten seiner Protagonisten, die in ihrer Unmittelbarkeit beim Betrachter etwas anschlagen, etwas zum Klingen bringen: etwa der gestreifte Plastikbeutel, mit dem die Frau auf dem Kurfürstendamm über den Zebrastreifen läuft. Oder der Mann, der beim Besteigen des Ausflugsdampfers den Arm zum Winken erhoben hat. ‚Hier sind wir‘, scheint er zu rufen. Die modernen Muster auf Kleidern und Tüchern gaben der damaligen Zeit ihren Flair und standen doch für mehr: Die Deutschen, der Entpersönlichung im Nationalsozialismus entronnen, wollten um nahezu jeden Preis wieder Persönchen sein, so wie die Frau im VW-Werk mit ihrem hochtoupiertem Haar und ihrem buntgemusterten Kleid, neben der ein Gastarbeiter sitzt und lacht. „Es war keine so wunderbar wie du!“, sang Cliff Richards damals mit breitem ausländischem Akzent.
Die Deutsche Botschaft in Addis Abeba erfand sich damals den Blick eines Fremden nicht allein zu wirtschaftspolitischen Werbe-Zwecken. Johannes Hailes Bilder  boten eine kleine unbefangene Liebeserklärung an den hiesigen Nachkriegsfortschritt: SIe präsentierten eine moderne Nation, in der Inländer und Ausländer aller Hautfarben miteinander werkten und wirkten. Wäre die Ausstellung, wie ursprünglich geplant, auch hier, in der BRD, gezeigt worden, hätten die Bewohner bestaunen können, wie intakt ihr Wieder-Aufbau von außen aussah. Schuld und Scham und Schrecken, die den Leuten in den Knochen steckten, waren nirgends zu sehen. Und so rufen die Bilder heute Erinnerungen zurück und beglaubigen - freier vielleicht, als wir Nachgeborenen es je können – das Gewesene.