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Marie Luise Knott

Komponierte Sprache zum laut lesen

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Eine Lesebrille liegt auf einem Bücherstapel.
Laut lesen empfohlen (picture alliance / dpa / Ismo Pekkarinen)
Der österreichische Dichter Franz Joseph Czernin baut in seinen Gedichten auf Klang. Bei ihm gibt es weniger vollständige Sätze, aber Kunstworte. Seine Lyrik sollte deshalb laut und am besten mehrmals gelesen werden. So auch die Gedichte seines neuen Bandes "zungenenglisch".

In der Kindheit erfahren wir die Sprache als Klangreich. Sinn und Verstand vertreiben uns irgendwann daraus, doch glücklicherweise gelingt ihnen dies nie ganz. Die Verse des österreichischen Dichters Franz Joseph Czernin bauen seit Jahrzehnten auf den Klang - in der Nachfolge von Ernst Jandl, H.C. Artmann und überhaupt: der Wiener Schule. Man muss seine Gedichte laut lesen. Und mehrfach. Der Dichte und der Schönheit wegen.

Sprache kann bekanntlich Welten konstruieren. Czernin selber beschrieb einmal das Wirken seiner Poesie - als ob "aus Tritt um Tritt ins Leere eine Leiter werde". Anfangs imitierte er Satzmelodien und Sinngedichte. Lautliches trieb so manche Ideen voran. In den letzten Jahrzehnten nun verfolgt er in seinen Gedichten die "Vision" einer Versöhnung unserer Moderne mit den Versen anderer Zeiten und anderer Länder. Zunächst übertrug er Shakespeare-Sonette, später verfasste er eigene, moderne "Variationen" zu Dante-Gedichten, auch zu Versen von Gryphius, Goethe oder Rilke.

Nun ist - in diesem Frühjahr - in der Edition Lyrik-Kabinett der Band "zungenenglisch" erschienen. Untertitel "visionen, varianten". Diesmal hat Czernin, wie der Titel andeutet, englischsprachige Versfragmente in seinen Wortraum hineingeholt und variiert - neben Shakespeare, auch John Keats, Lord Byron, Swinburne oder Wallace Stevens. Sogar ins Englische übertragene Zeilen von Hölderlin und Dante erweitern ihm die sinnliche Wahrnehmung. Czernin macht all diese Dichter aus früheren Zeiten zu Zeitgenossen, ja zu Avantgardisten im Heute, um mit ihnen, wie es in der Ankündigung heißt, "die Vision jener Wirklichkeiten hervorzurufen, die allein durch die Poesie bezeugt werden können".

auch erdfrucht, sinister

auf einmal verbleibt, rau tafeln. 
dir schreib-rot rauschhaft.

stets flammstich, herzungen. 
auch uns fehlerfreien. lebkosten.

da fest zeitigst, versehen mir 
wie tief kehlgold.

doch rachenqualm, arterblich auch. 
bluternst am urteilen.

dass mir aufschrie, brosamen 
schlemmerarm, kelchneigend

uns rest abbrichst, herb rot. 
ja sehr gewagt, weinerlös.

Keine vollständigen Sätze, aber Kunstworte

Wie alle Gedichte aus "zungenenglisch" ist auch dieses aus Zweizeilern gemacht, doch Versgrenzen und Strophengrenzen markieren keine Sinngrenzen. Vollständige Sätze gibt es nicht. Viele der Komposita - erdfrucht, schreibrot, flammstich, arterblich - sind Kunstworte. Vokale spinnen Klangfäden, Silben begegnen sich, schmiegen sich aneinander und scheiden sich wieder - Czernin sammelt Wortgesteinsbrocken, die sich mal ballen, mal zu zerbröseln drohen. Einzelne Worte tauchen immer wieder auf, verweben die Gedichte; etwa "Brosamen" - ein Wort, das in diesem Band einen großen Assoziationshof besitzt: Es gibt graubrot, raubrot, traubrot und schreibrot.

Czernins Verse durchwandern himmlische und höllische Kreise, werden kabbalistisch gedreht und gewendet; Komposita offenbaren je nach Aussprache verschiedene Sinngehalte. "Versehen" kann man auch als "Vers-ehen" lesen, "schrei-brot" auch als "schreib-rot", "sehr gewagt" auch als "Särge wagt".

Man hört, es gibt in der Dichtung dieses Österreichers ein ähnliches Vergnügen wie im wirklichen Leben: Wir verstehen das Gesagte vielleicht nicht immer, nehmen aber wahr, was gesagt wurde. Sprache, derart komponiert, breitet seine kristallinen Strukturen vor uns aus und demonstriert auf diese Weise, wie ungeahnt viel Welt in ihr steckt. Ein Hohelied der Vielschichtigkeit, der Pluralität. Zeilenenden, Versabstände und poetische Brüche, so heißt es in dem Begleitessay, reflektieren - auch - die eigene Sterblichkeit, die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten.

Sprachlich souverän hat der Autor mit dem Ausstreuen des Wortes "Brosamen" quer durch das Buch eine Spur zu dem Dichter Dante gelegt, der sich selbst einmal als "Brosamenleser" bezeichnet hat. Er sammele in seiner Dichtung, so meinte er, die Krümel, die von der Tafel herabfielen, an der "das Brot der Engel" gegessen werde. - Czernin hat sich scheinbar neu und ganz im Hier und Heute unter den Tisch der Engel gesetzt. Der Titel nämlich - "zungenenglisch" - assoziiert das Wort "Engelszungen". Man denkt an das Zungenreden des Pfingstwunders, bei dem über alle Zeit- und Sprachgrenzen hinweg die Jünger Jesu von einem neuem Geist ergriffen wurden.

Czernins Dichtung birgt ein Geheimnis. Es gelingt ihm, durch seine kraftvollen Konstellationen, Variationen und Assoziationen eine rätselhafte Bedeutungssphäre zu generieren. Man kann die Verse wieder und wieder lesen, und jedes Mal sind sie uns neu.

Franz Joseph Czernin: "zungenenglisch. visionen, varianten", Edition Lyrikkabinett bei Hanser Verlag, 96 Seiten, 14,90 Euro.