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Marie Luise Knott

J.M. Coetzee: „Der Tod Jesu“
Komm, erzähl mir eine Geschichte
2013 veröffentlichte John Coetzee „Die Kindheit Jesu“, den Beginn einer Trilogie über das Leben Jesu, wie es schien. Doch einen Jesu gab es nicht, stattdessen einen Jungen namens David. Es folgte „Die Schulzeit Jesu“. Nun ist, zu Coetzees 80. Geburtstag, „Der Tod Jesu“ erschienen.

Link zum Beitrag auf Deutschlandfunk

 

Der südafrikanische Nobelpreisträger John Coetzee war eine Weile weltweit in aller Munde. Er wurde gepriesen für beides, für seinen Stil und für seine Wahrhaftigkeit. Wie kaum ein Autor schaute er der Wirklichkeit Südafrikas in die Abgründe und gleichzeitig in die Abgründe unser aller Wirklichkeit und unser aller Zweifel. Doch spätestens seit seiner Jesus-Trilogie hat sich Ratlosigkeit breitgemacht.

Die Jesus-Romane spielen in einem fiktiven Land, in dem alle Menschen und auch Coetzees Protagonisten Fremde sind. Keiner ist im Land geboren, alle sind mit dem Schiff ins Land gekommen, niemand spricht mehr in seiner Muttersprache. Die gemeinsame Sprache ist ein angelerntes Spanisch. Und indem Coetzee den Jesus in den Buchtitel setzte, war klar, dass die Flüchtlingsgeschichte ein schlechtes Ende nehmen würde.

 

„Weißt du, was ich machen werde, Simón? Kurz bevor ich sterbe, werde ich alles über mich auf einen Zettel schreiben und den klein zusammenfalten und fest in meiner Hand halten. Wenn ich dann im nächsten Leben aufwache, kann ich den Zettel lesen und dann weiß ich, wer ich bin.“

 

Das Ich, das hier redet, ist David – zu deutsch: „der (von Gott) Geliebte“. Zu Beginn des Romans „Der Tod Jesu“ ist er zehn Jahre alt und spielt mit anderen Kindern Straßenfußball. Der „educador“, der Leiter eines Waisenhauses, wird auf den talentierten Spieler aufmerksam und lädt ihn ein, ins Waisenhaus zu kommen und in der dortigen Mannschaft mitzuspielen. Daraufhin verlässt der Junge sein Heim und seine Eltern, Simón und Inés, schließlich lebt er zwar mit ihnen wie ein Sohn, aber in Wirklichkeit ist er Waise, wie er immer wieder betont. Seine leiblichen Eltern hat er auf der Überfahrt verloren, Simón und Inés haben ihn in der neuen Heimat an Sohnes statt angenommen.

 

Zwischenmenschliches bleibt im Dunkeln
Was David am Waisenhaus fasziniert, erfährt der Leser nicht, wie überhaupt in diesem Roman die meisten Beweggründe und zwischenmenschlichen Bindungen im Dunkeln bleiben. In der Szene, in der es um den genannten Zettel geht, den David ins nächste Leben mitnehmen will, liegt der Junge bereits seit längerem im Krankenhaus, weil er, wie sich herausstellt, an einer rasch fortschreitenden Polyneuropathie leidet. Doch so viel Zuversicht die Ärzte und das Pflegepersonal auch in Worten verbreiten, die viel beschworene Therapie, die sie den Freunde und Angehörigen immer wieder ankündigen, sie bleibt aus. Eine Fassade. Der Zustand des Jungen verschlechtert sich zusehends.

Das namenlose Land, das Coetzee für die Jesustrilogie erfunden hat, ist eine fiktive durchrationalisierte Wohlfahrtstaats-Diktatur. Alle Einwohner haben bei der Überfahrt ihr früheres Leben vergessen, als hätten sie den Fluss Styx überquert. Die Ankommenden erhalten neue Namen und eine Sozial-Nummer. „Man“ kümmert sich. Doch hinter der freundlichen Sprache dieses dystopischen Landes lauert eine uniformisierende Gewalt. Der Staat nimmt die Menschen auf, doch raubt er ihnen das Eigene: allen voran ihre Erinnerung, ihre Geschichte, ihre Individualität, ihr Leid und ihre Leidenschaft. David revoltiert gegen diese „beste aller möglichen Welten“: Warum eigentlich sollen zwei und zwei vier sein, argumentiert er: Gott der Herr hat schließlich jedes Wesen einzigartig erschaffen. Störrisch verteidigt er die Möglichkeit, dass es noch ganz andere Wirklichkeiten gibt, als es die herrschende Ratio – Sinn und Verstand der Wohlgesinnten – unterstellt. Seine Lieblingslektüre, sein Leib- und Magenbuch gewissermaßen, ist Cervantes Don Quichote und dessen erfundene Ritterwirklichkeit. Er hat es auswendig gelernt, sich inkorporiert gewissermaßen.

Fiktionen und Mythen helfen den Menschen bekanntlich, die tödliche Realität zu ertragen. Fiktionen stellen eine immaterielle Parallelwelt zur Verfügung und durchtränken unmerklich unser kollektives Bewusstsein. Quijote ist solch eine Fiktion. Er lebt in der Welt seiner Ritterromane. Wie David sieht er eine Welt jenseits der schnöden Realien, und will sie wiederbeleben.

In der Ankunftsgesellschaft ist David das kindliche Gemüt, das uns auf aktuelle Fragen stößt. Er ist der einzige, der in Kontakt steht mit einem Andernorts. Und statt den Gesetzen zu gehorchen, sucht er, sich neue Gesetze auszudenken. Wenn es nicht den Titel gäbe, würde David als hochbegabtes, altkluges, ja: verzogenes Gör durchgehen. Ein Schulverweigerer, der sich für etwas Besseres hält. Warum, fragt man sich, sind seine Eltern so tolerant? Oder sind sie nur machtlos?

 

Mystische Visionen
David stirbt im Roman an Entkräftung. Seine Kräfte sind der allgemeinen Indifferenz nicht gewachsen. In der Bibel hatte Jesus gesagt: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“, und auch in diesem Buch herrscht die Überzeugung, dass nur Kinder vollständige (weil noch nicht von der Gesellschaft deformierte) menschliche Wesen sind. Als David im Krankenhaus liegt, sind es vor allem Kinder, die an seinen Lippen hängen: die Freunde von der Straße, aus dem Waisenhaus und aus der Tanzschule. Und als er später stirbt, sind es die Kinder, die beschließen, dass seine Worte und Werke weiterleben müssen: Sie setzen in der Praxis fort, was sie glauben, gehört oder verstanden zu haben. Aljoscha, ein Lehrer von der Tanzakademie erzählt:

 

„In Banden sind sie von Geschäft zu Geschäft gerannt, haben Auslagen umgeworfen und Inhaber beschimpft, weil diese zu viel verlangen würden. Der gerechte Preis! Das ist ihr Ruf. In einer der Tierhandlungen haben sie die Käfige aufgebrochen und die Tiere freigelassen. Auch die Vögel haben sie befreit. Nur den Goldfisch haben sie zurückgelassen. Alles für die Sache des gerechten Preises, alles im Namen Davids.“

 

Einige Kinder behaupteten sogar, mystische Visionen zu haben, erzählt er. Die Legenden um die Worte und Taten Davids haben begonnen.

 

„Betrachten Sie ihn mit ihren Augen, Simón, mit den Augen von Kindern, die ihr ganzes Leben lang in einer Institution verbracht haben, die nach den Regeln dieser Institution gelebt haben, mit kaum einem Zugang zur größeren Welt. Plötzlich taucht in ihrer Mitte ein Kind mit seltsamen Ideen und phantastischen Geschichten auf, ein Kind, das nie gezähmt wurde, das sich vor niemandem fürchtet, bestimmt nicht vor seinen Lehrern, ein Junge, der schön wie ein Mädchen ist, doch ein Talent für Fußball hat – der in ihrer Mitte auftaucht wie eine Erscheinung, und dann, ehe sie sich an ihn gewöhnen können, einer geheimnisvollen Krankheit zum Opfer fällt und plötzlich fortgeschafft wird, um nie wieder einen Fuß in das Waisenheim zu setzen. Kein Wunder, dass sie ihn zu einem Märtyrer gemacht haben.“

 

Weltliteratur
Im Zentrum der Werke von John Coetzee stehen seit Anbeginn existenzielle Fragen, welche die modernen Schriftsteller spätestens seit Defoe und Cervantes umtreiben. Welches ist das Verhältnis eines einzelnen kleinen Lebens zur Welt. Was vermag der Mensch in der Welt auszurichten? Und was das Tier? Wie vermögen wir uns in der Welt einzurichten? Und, was die Literatur selbst betrifft: Welchen Einfluss haben Erzählungen auf eine Welt in Not, damals wie heute. Welche Kraft hat die Fiktion? Sind Erzählungen Kassiber von Andernorts, so wie die Geschichten des Don Quijote oder wie Davids Aufzeichnungen seines Lebens, die er fest in seiner Hand verschlossen über die Grenze ins nächste Leben hinübertragen will, um dort besser gewappnet zu sein? Kann Literatur uns helfen, der Wahrheit, der verborgenen, ein wenig näher zu kommen?

John Coetzees Mischung aus realistischem und allegorischem Erzählen prägte schon sein erstes Buch, Dusklands, das bei seinem Erscheinen, 1974, eine politische und literarische Sensation in Südafrika war, weil es mit allen Konventionen realistischen Erzählens brach und den Vietnamkrieg mit der südafrikanischen Kolonialisierung im 19. Jahrhundert verband. Coetzees Schreiben lebt von zweierlei: einer radikalen Befragung der Gegenwart und einer permanenten Revolutionierung des Romans. Statt uns Figuren mit „richtigen“ Positionen vorzusetzen, machte er uns Leser zu aktiven Teilhabern an seiner Weltbefragung. Und so komponierte er alle seine Romane als Bühnen, auf welchen die Dramen des Lebens ausgetragen und ausgehandelt werden. Der Leser betritt einen dunklen Raum, und auch wenn sich der Nebel nicht wirklich lichtet, weil es nirgends einfache Deutungen gibt, verlässt er den Raum als ein anderer. Coetzees Protagonisten halten sich an keine Tabus. Keiner von Coetzees Helden ist sich seiner Welt und seiner Weltsicht gewiss. Sie alle exponieren vielmehr ihre Verwirrung, und stellen so unserer eigenen Verwirrung einen Raum bereit. Das ist große Kunst.

Auch im Tod Jesu. Die nachhaltige metaphysische Erzählung ist wie üblich gespickt mit Stimmen anderer Fiktionen, mit Verweisen auf Dostojewski, Cervantes, Kafka, Tolstoi und Beckett, aber vor allem, der Titel sagt es, mit zahlreichen Verweisen auf die Bibel. Es ist, als habe Coetzee, um uns den Zugang in sein Gedankenreich zu erleichtern, diverse uns bekannte Fährten ausgelegt. Doch um was geht es hier wirklich?

Ein Kritiker äußerte sich überzeugt, dass Coetzee diese Trilogie geschrieben habe, um sich über die zahllosen Exegeten seines Werkes zu mockieren. Andere Kritiker sprechen schon länger von einem „post-narrativen turn“ in seinem Werk. Wieder andere deuten das Buch als rätselhaften Thesenroman , als apokryphes Evangelium oder als pessimistische Antitheologie. Schließlich gibt es keine Botschaft. Keine Auferstehung und keine Erlösung.

 

Ein Buch der Trauer
Tatsächlich hilft es vielleicht, einer anderen Fährte zu folgen, will man verstehen, was hier geschieht. Der Stil ist von biblischer Unausgeschmücktheit, im Mittelpunkt stehen die Dialoge. Doch in der Trauer des Vaters um den verlorenen Sohn bricht plötzlich eine Gefühlswelt hervor. Simón kann den Tod nicht fassen:

„Er zwingt sich, den Leichnam anzusehen: die ausgemergelten Glieder, die von unten her schon allmählich blau werden, die schlaffen, leeren Hände, den geschrumpften, nie benutzten Penis, das Gesicht, verschlossen wie in konzentriertem Nachdenken. Er berührt die Wange, unnatürlich kalt. Er drückt die Lippen auf die Stirn. Danach findet er sich, ohne zu wissen, wie oder warum, auf Händen und Knien auf dem Fußboden wieder.“

 

„Lass das alles zu Ende sein“, denkt er. „Lass mich aufwachen und lass es zu Ende sein. Oder lass mich nie wieder aufwachen.“

Hier ist die erzählerische Distanz dahin. In den folgenden Nächten wacht Simón immer wieder auf und hört Davids Stimme.

 

„Simón, ich kann nicht schlafen, komm und erzähl mir eine Geschichte!“

Oder:

„Simón, ich habe mich verlaufen, komm und rette mich!“

 

Simón meidet fortan den Park, wenn er die Wohnung verlässt. Wenn er die spielenden Kinder sieht, fragt er sich verbittert, warum nur ihm sein Kind weggenommen wurde, während neunundneunzig andere Kinder weiterspielen.

Angesichts solcher Trauerszenen erscheint Coetzees Jesus-Vorhaben plötzlich in neuem Licht. Offensichtlich hat die Trilogie einen autobiografischen Hintergrund. Aus der großen Coetzee Biographie von JC Kannemeyer weiß man ein wenig über John Coetzees Sohn Nicolas, dessen Schulkarriere deutliche Parallelen aufweist zur Schulkarriere des jungen David. Wie David hatte sich auch der intelligente Nicolas der Schule verweigert, und wo Nicolaus als Kind in der Waldorfschule Buchstaben tanzte, tanzt David im zweiten Band der Jesus-Trilogie Nummern, um sich mit anderen Sphären, den Sternen, zu verbinden. Wo David im Buch mit zehn Jahren stirbt, stirbt Sohn Nicolas mit 23.

So gesehen ist der Jesus-Zyklus ein Buch der Trauer, und ein Buch der Verzweiflung darüber, dass Väter heute trotz aller Liebe und Sorge vielleicht nicht mehr in der Lage sind, ihre Kinder auf deren Weg in die Welt zu begleiten. Die Generationen halten sich nicht mehr an den Händen. Die Menschen verstehen einander nicht. Auch nicht David und Simón. Alle Tradition ist gebrochen, die Vergangenheit erhellt die Gegenwart nicht mehr. Kein Wunder, dass der Roman in einem Land spielt, in dem alles Vergangene ausgelöscht ist. David ist allein. Ohne Vorbild. Und er ist ein Jesus, ein Neuerer, wie alle Kinder.

 

„'Ich gehe ins Waisenheim‘, wiederholt der Junge.
‚Du machst nichts dergleichen!‘
Inés versucht, ihm die Tasche wegzunehmen, doch er weicht zurück. ‚Lass mich in Ruhe, fass mich nicht an!‘, schreit er. ‚Du bist nicht meine Mutter! Du kannst nicht bestimmen, was ich tun soll!‘
‚Wir wollen jetzt hochgehen und das in aller Ruhe besprechen‘, sagt Simón. Mit versteinertem Gesicht gibt der Junge die Tasche auf. Zu dritt steigen sie die Treppe zu Inés’ Wohnung hoch, wo David sich in sein Zimmer verzieht und die Tü̈r zuknallt. Inés kippt den Inhalt der Tasche auf den Boden: Kleider, Schuhe, Don Quijote, zwei Kekspackungen, eine Büchse Pfirsiche und ein Büchsenöffner.
‚Was sollen wir machen?‘, fragt Simón. ‚Wir können ihn nicht einsperren.‘
‚Auf wessen Seite bist du?‘, erkundigt sich Inés.
‚Ich bin auf deiner Seite. Wir stellen uns dieser Situation gemeinsam.‘
‚Dann finde eine Lösung.‘“

 

Sprachliche Handicaps
Es gibt bekanntlich keine Lösung. Je kränker der Junge, desto existenzieller werden die Fragen im Roman: Porqué estoy aquí? fragte der Junge wiederholt. Warum, genauer: wozu bin ich hier auf der Welt. Zu welchem Zweck? Und: Was bleibt von uns, zumal in einer Welt, die kein Geistesgefühl ihr eigen nennt. Welche Spur hinterlassen die Einzelnen? Werden sie erkannt, werden sie erinnert, auch wenn sie es nicht zum Held einer Geschichte schaffen?

David möchte gerne, dass die Menschen auch nach seinem Tod von ihm sprechen, so wie die Menschen noch heute von Don Quijote und von Jesus sprechen. Im Krankenhaus fragt er Simón:

 

„‚Aber wer wird ein Buch über meine Taten schreiben? Wirst du es tun?‘
‚Ja, ich will es tun, wenn du das wünschst. Ich bin kein geschickter Schriftsteller, aber ich werde mein Bestes geben.‘
‚Aber dann musst du versprechen, mich nicht zu verstehen. Wenn du mich zu verstehen versuchst, verdirbt das alles. Versprichst du es?´“

 

Simón verspricht es und vor diesem Hintergrund ist die Jesus-Trilogie ein doppeltes Vermächtnis: Simon erzählt hier die Geschichte Davids, ohne ihn verstehen zu wollen, das heißt ohne ihn unter die eigene vernunftgesteuerte Weltsicht subsumieren zu wollen. Und gleichzeitig erzählt er die eigene Geschichte, die Geschichte des Vaters, der seinen Sohn verliert und spürt, dass er dessen Andersartigkeit und dessen Visionen der Welt nicht gewachsen ist. Die Sprache ist von großer Schönheit, von der gleichen stilett-artigen Präzision, wie sie Coetzees Schreiben von Beginn an kennzeichnet: Scharfsichtig und unsentimental. Eine Erkundung. Diesmal ist sie noch karger, vielleicht, um an die unberührbaren Zonen der Trauer zu rühren.

 

Das Englische entkolonisieren
J.M. Coetzee ist in der Nähe von Kapstadt aufgewachsen, doch die langen Sommer verbrachte er meist auf einer einsamen Farm in der Steinwüste der Karroo namens Voëlfontein, zu Deutsch: Vogelbrunnen. Ein kleines, allerdings äußerst karges Paradies, wo er jeden Stein und jeden Dornbusch kannte und die Vögel sich am Abend zu Tausenden in den Bäumen am Brunnen niederließen. Auf der Farm mischte sich sein Englisch mit dem Afrikaans der Farmer und den indigenen Sprachen der Landarbeiterkinder. Zum Studium ging Coetzee nach England, später zog es ihn in die USA, doch in der Hochzeit des Vietnamkriegs wurde dort seine Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert, und er kam nach Kapstadt zurück.

Südafrika sei ein Land mit sprachlichen Handikaps, hat er einmal gesagt. Er selbst blieb beidem treu, dem Englischen und dem Handikap. Er erforschte die Sprache der Namas, verfertigte Übersetzungen aus dem Afrikaans und in seinem Vorlass finden sich Briefwechsel in IsiZulu. Heute sagt er:

„Ich habe Vorbehalte gegenüber dem Englischen, besonders wenn es um Philosophie oder Politik geht. In eine Sprache eingeschlossen zu sein, bedeutet, dass man sich von der Weltsicht dieser Sprache durchdringen lässt. Dabei entferne ich mich immer mehr von der Weltsicht, die die englische Sprache vorgibt.

Ich habe nicht die Zeit und nicht den Raum, die Verbreitung des Englischen als weltweite Handelssprache und zunehmend auch als Wissenschaftssprache zu untersuchen. Aber ich möchte folgendes sagen: Ich habe nichts gegen die Idee einer lingua franca, aber es ist eine Tatsache, dass jede Sprache eine gewisse Weltsicht in sich birgt, eine Weltsicht, welche Muttersprachler als gegeben annehmen. Die Welt ist so, wie sie ihnen durch das Prisma der eigenen Muttersprache erscheint. Aus philosophischen nicht weniger als politischen Gründen bin ich für eine Pluralität der Sprachen und eine Pluralität der zur Diskussion stehenden Weltmeinungen.“

 

Zauber- und Beschwörungsformeln
Der Sprachenfrage wurde in der Rezeption von Coetzees Werk bisher meist wenig Beachtung geschenkt, dabei gibt es gute Gründe, sie ernst zu nehmen. Mehrfach hat Coetzee betont, Englisch sei keine Sprache für Afrika. Das Englisch, das die Siedler mitbrachten, habe sich der dortigen Wirklichkeit gewaltsam aufgezwungen. Jede Sprache ist schließlich Ausdruck von Herrschaft. Wer die Begriffe bildet, hat das Sagen.

Coetzees Sprache gleicht der Schönheit der Karroo und dessen ausgewaschenem Boden – sie ist karge, würzige Nahrung, im steinernen Präsens abgefasst. In allen Werken finden sich fremdsprachige Partikel, früher meist aus Afrikaans, auch mal aus dem Deutschen und Französischen, um die englische Sprache und die dazugehörige Weltsicht aufzubrechen, das Englische zu entkolonisieren.

In der Jesus-Trilogie geht es spanisch zu.

 

„Warum muss ich die ganze Zeit Spanisch sprechen?“, fragt David einmal. Und Simón antwortet:

„‚Wir müssen eine Sprache sprechen, mein Junge, wenn wir nicht wie die Tiere bellen und heulen wollen. Und wenn wir eine Sprache sprechen, dann ist es das Beste, wir sprechen alle dieselbe. Ist das nicht vernünftig?‘
‚Aber warum Spanisch? Ich hasse Spanisch.‘
(...)
‚Ich möchte meine eigene Sprache sprechen.‘
‚So etwas wie eine eigene Sprache für jemanden gibt es nicht.‘
‚Doch! La la fa fa yam ying tu tu‘.“

 

Lala-fafa-yamying-tutu. Eine Zauberformel. Eine Beschwörungsformel. Wie einst die Schamanen evoziert David hier die Existenz anderer Welten – jenseits des Zwangs zu Logik und Verstand. Und diese anderen Welten – sie tun not. Man muss trotzig auf ihnen bestehen. In der Jesus-Verpackung ist es Coetzee wie Quijote gelungen, eine Kunstwelt zu schaffen, eine Kunstwelt, die nicht nur von heute ist.

 

John M. Coetzee: „Der Tod Jesu“
aus dem Englischen von Reinhild Böhnke
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 224 Seiten, 24 Euro.