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Marie Luise Knott

Zu Elija-Liisa Ahtila:  "The Tent House", in Verführung Freiheit. Kunst in Europa seit 1945, 2012
Europaratsausstellung, hg. von Monika Flacke, DHM 2012

 

Herausgeber: Monika Flacke für das Deutsche Historische Museum, Berlin

352 Seiten, 306 farbige Abb., 28 x 21 cm, Flexcover, Erschienen 17.10.2012, ISBN 978-3-942422-90-1

 

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Wie lebt der Mensch und was braucht einer, um sich in seinen vier Wänden zu Hause zu fühlen? - Die finnische Künstlerin Eija-Liisa Ahtila schuf 2004 für einen Museumsraum vier auf Stahltische montierte Musterhäuser: Das »Pool-House«, dem in einem Becken das Wasser bis zum ersten Stock stand; das mehrgeschossige, transparente »Clear-House« mit seinen Glaswänden und Glastreppen und das von rechteckigen Platten überschattete »Shade-House«; auf dem vierten Tisch stand ein Bungalow, »Tent-House« genannt. 

›Zelthaus‹ ist trotz seines Wellblechdaches das einladendste dieser aus Alu, Plexiglas und Sperrholz gezimmerten Behausungen. Innen besteht der Bungalow aus einem einzigen leeren Raum, mit einem Eingang und zwei scheibenlosen Fensterfronten. Das leicht geneigte Pult-Dach ist oberhalb der Wände derart aufgeständert, dass man von oben in den Innenraum hineinsehen oder hineingreifen kann. Das Dach überragt die Seitenwände; so entsteht ein Außengang, der durch die verschiebbaren, aus schwarzem Zeltstoff gefertigten Sichtblenden teilweise abgeschlossen wirkt. Das Licht fällt in Streifen von Außen in den leeren Innenraum, den der Betrachter aus Gewohnheit als Wohnraum identifiziert. Doch der Raum hat am Boden ein großes, rechteckiges Loch. Darunter steht ein Arbeitshocker. Der Hocker und die Aussparung darüber laden den Betrachter ein: Wenn er nur wie Alice im Wunderland etwas schrumpfen und sich winden würde, könnte er auf dem Schemel Platz nehmen, den Kopf durch das Loch stecken und sich von innen her im ›Zelthaus‹ umschauen. Offen bleibt, ob er dort der Leere begegnet oder ob sein Reich der Imagination sich entfalten und ihm etwa Alices Liliputanergarten mit den bunten Blumenbeeten und dem kühlem Springbrunnen erscheinen kann. Die Zeltstoffblenden, die wie Vorhänge die freie Sicht nach außen verstellen, lenken den Blick auf die inneren Vorstellungen, wo man bekanntlich – wie auf jeder leeren Theaterbühne – Himmel oder Hölle in Bewegung setzen kann. »Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen«, notierte einst Blaise Pascal, dabei hätte er es wissen können, wie schnell Wohnzimmer in Wahnzimmer mutieren, in Orte, die man verlassen muss, weil sich in ihnen zu viele Vorstellungen und Gefühle stauen. Das große menschliche Drama spielt schließlich meist in Häusern - in Schlössern, Bauhäusern oder Sozialwohnungen, in Schattenhäusern, Poolhäusern oder Zelthäusern. 

Weltweit bekannt ist Eija-Liisa Ahtila vor allem als Videokünstlerin. Meist inszeniert sie auf mehrteiligen Projektionsflächen asynchron alltägliche Szenen, Bewusstseinszustände und surreale Momente von großer Schönheit. Die harten Schnitte in den Filmen verstören, Sprache und Bild gehen eine unheimliche Spannung ein, die zusätzlich dafür sorgt, dass sich im Kopf des Zuschauers Bildwirklichkeit und Einbildung amalgamisieren. Zwei Jahre vor der Häuser-Installation hatte Ahtila 2002 in ihrer Video-Arbeit »TALO - The House« auf drei Projektionsflächen Fragmente aus dem Leben einer psychotischen Frau erzählt, die zwischen alten Stichen, roten Sofakissen, grünen Zimmerpflanzen und karierten Topflappen lebt und der nach und nach die Trennung zwischen Innen und Außen abhanden kommt - zwischen der Stille, den Stimmen aus dem Fernseher und dem Tuten der Schiffe, die in der Ferne vorbeifahren. Alle Außengeräusche, auch die erfundenen, führen in ihrer Wohnung zunehmend ein Eigenleben: Irgendwann spaziert auf einer der Leinwände eine Kuh aus dem Fernseher mitten durch ihr Wohnzimmer. Im Film verhängt die Frau daraufhin alle Fenster. Sie spürt, dass sie sich in ihrem privaten Lebensraum der großen weiten Welt nicht mehr erwehren kann, und schließt die Vorhänge, um sich ganz ihrem Imaginationsraum zu überlassen. Die Wohnung wird weiß und so leer wie das »Tent-House« mit seinen Sichtblenden; Fernseher, Topflappen und Küchentisch sind verschwunden, den Wahngebilden sind keine Grenzen mehr gesetzt. 

Ahtila sucht in ihrer ganzen Kunst nach Wahrnehmungstechniken, welche die Fragmentierung unseres heutigen Lebens anerkennen und gleichzeitig darin Halt gewähren. So hinterfragt sie die Erzählformen und Bildtechniken des klassischen Kinos. Nicht zufällig war die Künstlerin 2011 in der Jury des Filmfestivals von Venedig, denn Eija-Ljisa Ahtila hält fest an der Fiktion der Erzählbarkeit und an der Fiktion, dass sich eine Verbindung zwischen den Menschen und ihren Vorstellungswelten immer wieder herstellt und herstellen lassen kann. In den Leerstellen und Brüchen, im Ausgesparten also, gerät die Imagination ins Tanzen. 
In Ahtilas »Tent-House« gibt es keine Gegenstände persönlicher oder historischer Natur. Es werden weder vergangene Lebenswelten rekonstruiert, noch gegenwärtige oder zukünftige Interieurs entworfen. Die Video-Künstlerin hat in der Haus-Installation das Auge ihrer Kamera in das Auge des Betrachters hineinverlegt, sodass dieser sich in Gedanken im Innern des Zelt-Hauses installieren kann und im Kopf einen, ja: seinen Film herstellt; Spuk und Wahn können vom Raum Besitz ergreifen, aber genauso wie im richtigen Theater auch, wieder beendet werden. 

Wie Lebensräume beschaffen sein müssen, damit sie uns schutzbedürftigen Subjekten tatsächlich Schutz zu bieten vermögen, bleibt Ahtilas brennende Frage bis hin zu »Annunciation« (2010) ihrer 3-Kanal-Videoarbeit über Marias Verkündigung und die Flucht nach Bethlehem. Ahtila, die weiß, dass Illusion ein Material ist, mit dem man arbeiten muss, hat 2004 ihre sterilen Häuser wie Muster-Puppenhäuser inszeniert, wie jene Theaterbühnen der Kindheit, auf denen die Dramen des Lebens aufgeführt wurden, das gelebte, das ungelebte und das erfundene Leben. Die klassisch bürgerliche Vorstellung, dass ein Haus einen Schutzraum darstellt, in dem die Menschen geborgen und einträchtig zusammenleben, war schon aufgesprengt und in tausend Teilbilder zerborsten, bevor Ahtila geboren war. Ihre Kunstwerke versuchen nun, die zersprengten Teile zu orten, zu ergreifen und in Szene zu setzen. Nichts ist einfach verfügbar, alles muss neu erschaffen werden, damit der Mensch eines Tages – in seinen vier Wänden vielleicht – ein Mensch sein kann, das heißt: ein Lebewesen, das ein Außen und ein Innen besitzt, also eine Realität und ein Vorstellungsvermögen; ein Lebewesen, das beides, Fiktion und Wirklichkeit, voneinander trennen und miteinander in Kontakt halten kann. 
 »Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne savoir pas demeurer au repos, dans une chambre«. Blaise Pascal, Pensées, 139.