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Marie Luise Knott


Eine verkehrte Welt auf den Kopf stellen

link zum Artikel in der Neuen Züricher Zeitung

 

David Grossman hat sich als Meister der leisen, einfühlsamen Töne etabliert. Sein jüngstes Werk greift in eine ganz andere Tastatur. Seine Fans in Israel sind befremdet, seine Kritiker davon angetan.

 

David Grossman ist derzeit der wohl bedeutendste israelische Autor der jüngeren Generation. In den letzten dreissig Jahren hat er mit wachsender Einfühlsamkeit sanfte, bewegende Figuren von grosser Menschlichkeit gezeichnet und sie mit den Fragen und Erschütterungen konfrontiert, welche die Menschen in seinem Land beschäftigen. Ein Seismograf.

Mit «Das Lächeln des Lammes» legte er 1983 den ersten israelischen Roman über die Besatzung im Westjordanland vor. In «Stichwort: Liebe», dem Werk, das ihn Anfang der 1990er Jahre international bekannt machte, fragte er: Was hätte ich gemacht, wenn ich zur Zeit der Shoah gelebt hätte? Hätte ich als Jude dieser Verwandlung in einen Untermenschen irgendetwas entgegensetzen können? Und: Wenn ich ein nichtjüdischer Deutscher gewesen wäre, wäre ich dann mitgelaufen? Hätte ich mitgemordet? Das war ungeheuerlich. 2008 liess er in dem weltweit hochgelobten Roman «Eine Frau flieht vor einer Nachricht» seine Protagonistin Ora durch Israel wandern, um den eigenen Sohn, der sich freiwillig zum Kriegseinsatz gemeldet hat, durch endloses Memorieren gemeinsam gelebter Augenblicke vor dem Tod zu bewahren. David Grossmans Sohn Uri war 2006 im Krieg gefallen.

 
Neue Töne

Nun liegt sein neuester, im Original 2014 erschienener Roman, «Kommt ein Pferd in die Bar», in der grossartigen Übersetzung von Anne Birkenhauer auch auf Deutsch vor. Der Autor selbst mutmasst: In einem Essay hätte er nicht ungestraft schreiben können, was er seinem Protagonisten Dovele in den Mund legt. Doch so unbequem das beharrliche Friedensengagement von Grossman seinen Landsleuten sein mag, seine kritischen Äusserungen finden in Israel auch bei Gegnern Gehör. Dieser Respekt gründet nicht zuletzt darin, dass er seinen Sohn verlor.

Viele von Grossmans Werken sind aus Stimmen gebaut. Man muss den Erfahrungen der Schweigenden und Unterdrückten Raum geben, lautet sein Credo; man muss Pluralität herstellen gegen die Gefahr der gesellschaftlichen Uniformisierung.

Er, der in der Vergangenheit gepriesen wurde für seine einfühlsame, warme, vielschichtige Sprache, schlägt jetzt völlig neue Töne an. Der Roman spielt auf einer schäbigen Kleinkunstbühne eines israelischen Küstenstädtchens. Dovele G., ein Stand-up-Comedian und eine verkrachte Existenz – Cowboystiefel, fettiges Haar, spillrig von Gestalt –, stolpert auf die Bühne und beginnt das Publikum mit einer erwartungsgemäss politisch unkorrekten Comedian-Parade vor sich herzutreiben. Derbe Zoten, Publikumsbeschimpfungen und anzügliche Witze wechseln einander ab. Die Sprache ist grob, vulgär. Bald umschmeichelt er, bald demütigt er das Publikum. Er buchstabiert noch die niedrigsten Instinkte durch und bewegt seine Zuhörer dazu, Dinge zu tun, die sie gar nicht wollen. Wie schafft er es, sein Publikum mit seinen Slapsticks zur Masse zu formen? «Du berührst die Leute, und schon machen sie die Beine breit», erläutert er. Dovele ist der Clown, der der israelischen Gesellschaft den Spiegel vorhält: Sex, Familie, Besatzung, Krieg – kein Thema ist ihm zu gross, keine menschliche Regung zu klein. «Willst du Araber an einer Strassensperre tanzen sehen? Zack! Ein Wort von dir, und sie (. . .) ziehen sich aus. Wie viel Lebensfreude dieses exotische Völkchen doch hat!», parodiert er die Allmachtsphantasien von Soldaten an den Checkpoints.

«Immer spielt ihr und scherzt? ihr müsst, oh Freunde! mir geht dies / In die Seele, denn dies müssen Verzweifelte sein», heisst es bei Hölderlin. Und tatsächlich, man spürt es: Das Lachen sucht die erstarrten Panzerungen zu durchbrechen und die Beteiligten aus ihrer Reserve zu locken. Wo Furcht und Schrecken sie zu ersticken drohen, kommen sie wieder zu Atem.

Fast unmerklich, als handele es sich um einen weiteren derben Witz, beginnt Dovele die unglaubliche Geschichte seiner vielfach beschädigten Kindheit ins Programm einzuflechten. Aufgewachsen als Kind einer Holocaustüberlebenden, wird er mit vierzehn in ein paramilitärisches Camp verschickt, wo er von seinen Klassenkameraden gedemütigt wird. Als er den titelgebenden Witz vom Pferd und von der Bar hört, sitzt er gerade in einem Militärauto, das ihn aus diesem Camp zu seiner «ersten Beerdigung» heimbringen soll, wie es heisst. Wer von seinen Eltern gestorben ist, hat man ihm grausamerweise nicht gesagt. Während der Fahrer verzweifelt Witze erzählt – was soll er schliesslich vier Stunden mit dem Jungen an seiner Seite? –, sitzt dieser auf glühenden Kohlen und versucht, paritätisch an beide Eltern zu denken. Momente einer gespenstischen, surrealen Clownerie.

Immer wieder möchte man das Buch weglegen, denn Grossman hat die Unerträglichkeit der Lage in ein unerträgliches Lektüreerlebnis transponiert. Bei einigen Grossman-Lesern in Israel stiess das Buch auf gemischte Gefühle: Warum sollten sie sich einen Text antun, der so gewalttätig ist? Bisherige Kritiker des Autors hingegen lobten das neue Werk: Endlich tue Grossmans Sprache nicht mehr so, als gäbe es eine intakte Welt, sagen sie. Endlich spiegele die Sprache die Gewaltverhältnisse im Land.

Dass der Roman mehr ist als der letzte Witze-Abend eines gealterten Comedians, liegt an der zweiten Hauptperson, Avishai. Er, der ehemalige Richter, der Dovele in der Jugend kannte, hatte dessen Existenz über Jahre hin verdrängt – bis dieser ihn anrief und ihn anflehte, zu der Veranstaltung zu kommen. Avishai, dem die Vulgarität derartiger Abende zuwider ist und der nicht weiss, was ihm bevorsteht, reflektiert genauestens die Interaktion zwischen Comedian und Publikum. Mit seiner gerichtlich geschulten Menschenkenntnis schaut er der Szene hinter die Fassade, während eine zweite Bekannte aus Doveles Jugend, Pitz, die zufällig im Publikum sitzt, den Abend verändert. «Du warst ein guter Junge», wiederholt sie. Sie ist es auch, die erzählt, dass Dovele in seiner Kindheit auf Händen lief.

Untergründig durchwirkt Grossmans jüngstes Werk eine höchst aktuelle Frage: Wie kann man sich von den Parolen, Lebenslügen und Lippenbekenntnissen lösen, hinter denen sich der Einzelne und auch eine ganze Gesellschaft verschanzen? Kann man sich im Lachen das Gnadengeschenk der Freiheit zurückerobern? Schliesslich ist der Mensch mehr als die Summe seines Scheiterns.

 
Explosiv

In einem Porträt von Helene Weigel hat Bertolt Brecht einmal beschrieben, was es für die grosse Schauspielerin hiess, einen elendigen Menschen zu spielen: «Was an diesen Menschen verkümmert war, erschien auch verkümmert, aber jeder konnte sehen, was da verkümmert war, das heisst ein Unverkümmertes, Strahlendes.» David Grossman porträtiert eine verrohende Gesellschaft, und doch sieht und spürt man, was da «verroht» ist. Im Roman ist es ein kleiner, hochsensibler Knabe, der auf Händen läuft und auf diese Weise die ganze verkehrte Welt auf den Kopf stellt.

Bei aller Zartheit, die durchscheint, ist der Roman so explosiv wie die israelische Wirklichkeit – und ein erzählerisches Meisterwerk über Menschlichkeit in schweren Zeiten.