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Marie Luise Knott

Eine Internationale für sich

Joachim Sartorius versammelt in "Niemals eine Atempause" politische Gedichte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Ingeborg Bachmann erzählte einmal, sie habe aufgehört zu dichten, als ihr der Verdacht kam, sie "könne" jetzt Gedichte schreiben, auch "wenn der Zwang, welche zu schreiben, ausbliebe". Vom Zwang oder auch von der Not im Dichten spricht nicht nur Ingeborg Bachmann. Das Gedicht in seiner "leidenschaftlichen Jagd nach dem Wirklichen" (Czeslaw Milosz) kann etwas, was andere Gattungen nicht können. Dabei wird der Schreibende mitunter verfolgt von dem, was ihn umgibt, weshalb Milosz 1945 in "Warschau" schrieb: "Ich kann nichts / Schreiben weil gleich fünf Hände / Nach meiner Feder greifen / Und ihre Geschichte zu schreiben befehlen / Die ihres Lebens und die ihres Todes."

In dem von Joachim Sartorius herausgegebenen Band "Niemals eine Atempause - Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert" finden sich keine Verse der Bachmann, wohl aber die genannten Zeilen von Milosz. Die Dringlichkeit, schreiben zu müssen - und sei es, um sich die Angst von der Seele zu schreiben -, schwingt in vielen der versammelten Gedichte mit, daneben liest man von den Hoffnungen der demokratischen Aufbrüche. Doch was eigentlich ist das, politische Lyrik? Die einen behaupten, Lyrik sei per se politisch, nicht zuletzt, weil sie der medialen Wörterflut Widerstand entgegensetze und die Wirklichkeit aufsprenge. Andere behaupten, politische Lyrik sei keine Lyrik, da sie auf Wirkung ziele. Sartorius zufolge kennzeichnet "politische Poesie", dass die Verse, "aus politischem Anlass oder Kontext entstanden, politische Geschichte reflektieren, aber in der ganz unverwechselbaren Manier des Gedichts". Folglich hat er Tendenzdichtung gemieden, denn diese nimmt der Gegenwart ihre Widersprüche.

Nach dem Ende der einstmals "engagiert" genannten Literatur, der nur wenige wirklich nachtrauern, fristete politische Lyrik lange Jahre ein Mauerblümchendasein. Dabei sind Schriftsteller auch Kinder ihrer Zeit, und ihre Zeit ist politisch. Es ist somit ein großes Verdienst, dass und wie Sartorius das Politische in der Wortkunst neu in den Blick nimmt. Und er ist für ein solches Anthologie-Vorhaben prädestiniert: Er ist Lyriker, hat über viele Jahre Dichterkollegen übersetzt und ediert, hat 1994 mit dem "Atlas der neuen Poesie" Stimmen aus aller Welt grandios zusammengeführt; in seinem Arbeitsalltag war und ist er seit Jahrzehnten ein herausragender Diplomat der Schönen Künste, zuletzt als Intendant des Hauses der Festspiele in Berlin, wo sich Künstler aus aller Welt begegnen.

Sein "Handbuch" folgt nicht formalen, gestalterischen oder ästhetischen Setzungen, sondern dem historischen Ordnungsprinzip der Katastrophen und Aufbrüche im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts - vom Völkermord in Armenien über den Ersten Weltkrieg, die Russische Revolution, den Spanischen Bürgerkrieg, die Todeslager, Exil und Emigration bis zum Widerstand in Osteuropa, dem postkolonialen Afrika, der Revolution in Kuba und dem Krieg in Vietnam; es folgen China, Jugoslawien und die Konflikte im Nahen Osten. Im Vorwort bemerkt Sartorius zu Recht, dass sein Blick ein europäischer sei; ein Inder hätte andere Schwerpunkte gesetzt. Außerdem weiß er: Indem er die Dichterworte in thematische Überschriften hineinzitiert und ihnen sachliche und biographische Erläuterungen voranstellt, nimmt er dem jeweiligen Gedicht etwas von seiner Offenheit. Ein kleiner Fluch der guten Tat.

Doch politische Gedichte brauchen solche Erläuterungen zum Entstehungskontext, und letztlich kann die thematische Überschrift den kraftvollen unter ihnen nicht viel anhaben, weder dem bosnischen Dichter Adin Ljuca noch Eluard oder Nelly Sachs. Sie bleiben bei sich. Jede Entscheidung für ein Ordnungssystem hat ihre Logik und ihren Preis, und so finden sich im Handbuch auch Gedichte, die mit der Zeit ihre politische Haltbarkeit eingebüßt haben und sprachlich nicht überzeugen. Außerdem fehlen Gedichte zu politischen Alltagsfragen wie Migration oder Parlamentarismus.

Eindrücklich beschreibt Wislawa Szymborska in ihrem Gedicht "Der Koreakrieg" (übersetzt von Karl Dedecius), was es mit dem aus einem Nelly-Sachs-Gedicht entliehenen Titel "Niemals eine Atempause" auf sich hat:

Sie stachen dem Jungen die Augen aus, das Augenpaar.

Weil dieses Augenpaar so schräg und zornig war.

- Ihm sei jetzt Tag wie Nacht -

der Oberst hatte selbst am lautesten gelacht,

er steckte einen Dollar in die Faust dem Büttel

und strich aus seiner Stirn das Haar,

zu sehen, wie der Junge, wie geblendet

davonging, Ausschau haltend mit den Händen.

Im Jahre Fünfundvierzig, Monat Mai, da habe

ich meinen Haß zu früh begraben

/... /

ich brauche seine Glut wohl wieder bald.

Wie in einer immensen Ausstellung wandert der Leser durch das Jahrhundert - von Stimme zu Stimme, von Ton zu Ton. Jedes Gedicht hat seine eigene Gestalt: Hymne, Ballade, Langgedicht, Sonett, Kontemplation, Introspektion, Zweizeiler, Stammeln, Schrei. Durch die formale und thematische Auswahl, Kombination und Konstellation tun sich im Band zwischen den Werken immer neue Beziehungen auf. Metaphern ("Meer", "Mauer", "Die Stunde Null") und Begriffe ("Verzeihen") ziehen sich durch die Zeiten und von Kontinent zu Kontinent.

Jeder Dichter nährt sich immer auch aus anderen Dichtungen und Erinnerungen und treibt seinerseits neue Bilder und neue Erinnerungen aus sich hervor, denn nichts entsteht allein. Sartorius hat wie beiläufig neben dem Netzwerk von Bildern und Begriffen auch zahllose Korrespondenzen und Dialoge geschaffen. So liest man etwa in Ossip Mandelstams "Epigramm gegen Stalin": "Und wir leben, doch die Füße, sie spüren keinen Grund." Ob die Schriftstellerin Hilde Domin Mandelstams Gedicht kannte oder nicht, ihr Vers aus dem Exil "Und ich setzte meinen Fuß in die Luft, und sie trug" scheint wie ein Echo auf die Zeile des fernen Dichters, der im Lager starb.

Besonders gelungen ist Sartorius' Entscheidung, das Kapitel "Todeslager" mit Dan Pagis' doppelbödigem Gedicht "Wiedergutmachungsabkommen" zu beenden: der Saubermann-Rede eines Nazi-Schergen an seine Opfer, in der es heißt: "Schon gut meine Herren" und "seht doch, ihr werdet leben, im Wohnzimmer sitzen, die Abendzeitung lesen". So rekonstruiert Sartorius die gespenstische Leere, mit Wahnworten gefüllt. Zu den vielen kleinen, großartigen Entdeckungen gehören die Gedichte "Der Pirol" von René Char, "Exil" von Amdjad Nâsir und "Als das Volk sich erhob von seinen harten Käserinden" des Chinesen Duo Duo. Daneben begegnet man alten Bekannten - etwa Kästners Verszeile "Was man auch baut, es werden stets Kasernen" oder Biermanns "Du, lass dich nicht verhärten, in dieser harten Zeit".

Dichter bilden eine Internationale für sich, weshalb nicht nur der Vietnamkrieg in verschiedensten Sprachen bedichtet wurde. Dass im Epilog Bob Dylan mit "Masters of War" das letzte Wort hat, schließt den Kreis, denn in aller Welt wird Bob Dylan als Wunschkandidat für den Nobelpreis gehandelt, und das nicht unbedingt der politischen Lieder wegen.

So überzeugend dem Herausgeber das Handbuch gelungen ist, so interessant die Auswahl und so gut die Übersetzungen - es bleiben Fragezeichen, was in der Natur der Sache liegt: Wie eigentlich überdauert das Politische in der politischen Lyrik? Überfrachtet man die Gedichte, wenn man die Anmerkungen zu Autor und Entstehungskontext den Versen voranstellt? Und: Gibt es wirklich so viel weniger politisch dichtende Frauen? Aber der Band "Niemals eine Atempause" zeigt auch: Politische Poesie kann viel, wo sie im Bachmannschen Sinne zwingend ist.

 

Joachim Sartorius:
"Niemals eine Atempause". Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 348 S., geb., 22,99 [Euro].
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