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Marie Luise Knott


Die Hoffnung auf ein Jenseits und die Marter der puren Gegenwart 

 

Über die Auseinandersetzung  mit dem Tode Christi bei Vittorio Carpaccio und Francis Bacon,

in Die Literarische Welt, 3. April 1999

 

In der Malerei unserer Tage sind biblische Gestalten und Motive, die einst im Mittelpunkt des Kunstschaffens standen, fast völlig verschwunden. Die Geburt Christi, die Verkündigung der Engel, die Flucht aus Ägypten, die wunderbare Brotvermehrung oder Judith mit dem Kopf des Holofernes - all diese Motive sind für die moderne Kunst verloren. Lediglich ein Thema hat die Durchsäkularisierung unseres Daseins offensichtlich überlebt: Die Kreuzigung bzw. der Tod Christi. Nicht nur religiöse Maler haben sich in der Moderne damit befaßt - auch solche, die über jeden Glaubensverdacht erhaben sind, wie etwa der englische Maler Francis Bacon. 

Das Sujet der Kreuzigung hat in der Geschichte der Kunst diverse Wandlungen durchgemacht - dem Geist der Zeit und den Schicksalsschlägen der Menschen folgend. In den ersten Jahrhunderten nach Christi blieb die Passion - und insbesondere die Kreuzigung - aus der bildnerischen Darstellung völllig ausgespart. Einige Historiker sprechen gar von einem praktischen Bildverbot. Bilder und Skulpturen waren in erster Linie Anbetungsobjekte, und entsprechend standen diesseitige Wundertaten im Vordergrund. Die ersten überlieferten Kreuze ungefähr aus dem 6. Jahrhundert glichen Ikonen. Angebetet wurde Christus der Erlöser, der über den Tod triumphiert hatte. Christus war der König, der Sieger über Leben und Tod. Sein Körper war starr an das Kreuz gespannt, Tod und Sieg bildeten einen Einklang. „Das Kruzifix“, schreibt der Religionphilosoph Jakob Taubes „ zuerst Objekt privater mönchischer Frömmigkeit, wird erst im Mittelalter auch Objekt des öffentlichen Kultes. Der ‘sermo humilis’ sowohl der christlichen Literatur als auch der bildenden Kunst beginnt am Rande des Imperiums und setzt sich erst durch im Niedergang und Untergang des Römischen Reiches.“
Dann löste sich der Körper Christi vom Kreuze. Das Kreuz blieb Zeichen des  Sieges, doch der Körper begann sich zu winden. Er wurde lebendig, rückte das Leiden ins Zentrum. Hier und da floß das Blut in Strömen, ja, es quoll in hohem Bogen aus den Händen und aus der Seite Jesu heraus - etwa bei Bernardo Daddi (1318- 48) oder seinem Zeitgenossen Ambrogio Lorenzetti. Dieses Blut, das auf anderen Bildern jener Zeit vom Abendmahlskelch aufgefangen wird, stand für das Geheimnis des Glaubens: Gott bringt sein eigen Fleisch und Blut dar, um den Glauben zu erneuern und die Welt zu erlösen. 
Immer deutlicher trat auf den Kreuzigungsdarstellungen der Sieg über den Tod  in den Hintergrund, das Wunder wurde gespalten: in die Kreuzigung (die Konfrontation mit dem Sterblich-Sein) einerseits und die Auferstehung (die Erlösung) andererseits. Es dominierte das Leben im Schatten des Todes: Das Leid, die Trauer, die bange Erwartung. Die Körper auf den Bildern sind geschunden, das Leid wird immer naturgetreuer imaginiert. Das Indivduum entdeckt sich und inszeniert in der Malerei die eigenen Fragen:  Welche Prüfungen hält Gott für uns Menschen bereit? Wie kann der Mensch angesichts des Leides auf dieser Welt und wissend um die eigene Sterblichkeit „weiter“leben? Und dabei gläubig bleiben? Die Figuren am Fuße des Kreuzes trauern, erstarren, weinen echte Tränen, für welche die Maler teils enorme Kunstfertigkeiten mobilisierten. Daneben sitzen höhnend die ungerührt um die Gewänder würfelnden Söldner.
Mehr und mehr wurde die Kreuzigung zur Projektionsfläche je eigener Erlebnisse, Erfahrungen und Phantasien: herausragend ist die Darstellung   des Isenheimer Altars, den  Matthias Gruenewald zur Zeit der Großen Pest für eine Siechenkapelle malte. Der Jesus, der dort am Kreuze hängt, ist voller Pestbeulen und Wundmale, sein Gesichtsausdruck ist vollendetes Leiden, die Glieder sind schmerzüberdehnt. Die Frauen am Fuße  ringen in bangender Trauer und hoffendem Gebet zugleich die Hände. Trost spendet allein das Lamm Gottes sowie der das Wunder der  Erlösung verheißende Abendmahlskelch.

In einzelnen Werken wurde die Frage nach dem Verhältnis von Leid, Tod  und Erlösung explizit, etwa in der „Meditation über das Leiden Christi“, das der italienische Maler Vittorio Carpaccio um 1510 gemalt haben dürfte. Carpaccio, der große Erzähler, entfaltet gewöhnlich in seinen Bildern ganze Geschichten. In der „Meditation“ sitzt der Leichnam Christi mit den entsprechenden Wundmalen auf einem zerfallenden Thron. Carpaccio sieht ihn als König der Juden; die neue Herrschaft, die er durch seinen Tod begründen wollte, ist zwar da, doch nicht herrlich: auf dem zerbröselnden Thron wachsen bereits Blumen, deren Wurzeln den Stein zusammenhalten und von der Hoffnung auf neues Leben künden. Ein Vogel erhebt sich darüber in die Lüfte. Hinter dem Thron erstreckt sich zur Linken Christi (also zur Rechten des Betrachters) eine friedliche, üppige italienische Kulturlandschaft mit Menschen und äsendem Wild. Zur Rechten Christi sieht man eine tote Steinlandschaft mit abgestorbenem Baum, einem ein Wild zermalmenden Raubtier und einer riesigen Höhle. Leben und Tod.  

Zur Rechten und zur Linken Jesu sitzen zwei alte Männer, sie trauern nicht, sie höhnen nicht, sie meditieren über Leid und Tod, an den diverse Gegenstände gemahnen: Auf dem Boden liegen Schädel, an einer Säulenruine hängt ein Rosenkranz aus Rückenwirbel-Gebeinen. Die Schlüsselfigur des Bildes dürfte der gottesfürchtige Hiob gewesen sein.  Gott hatte dem Satan, so berichtet die Bibel, die Erlaubnis erteilt, Hiob aus seinem wohlsituierten Dasein herauszureißen, um dessen Glauben auf die Probe zu stellen. Hiob, der, um die Kraft Gottes zu beweisen, von Armut, Krankheit und allen Übeln der Welt heimgesucht wurde, hatte mit seinem Leben gehadert und auch mit Gott zu rechten begonnen  („Du hast mir Haut und Fleisch angezogen, mit Gebeinen und Adern hast Du mich zusammengefügt. Warum hast du mich aus dem Mutterleib kommen lassen? Ach daß ich wäre umgekommen und nie ein Aug gesehen hätte.“ ) Doch er fiel nicht vom Glauben ab und so sitzt er bei Carpaccio auf einem schon bröckelnden Stein, auf dem noch Teile der Inschrift „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt“ zu entziffern sind.  

Hiob wie Jesus werden im Glauben versucht. Doch die Verhältnisse haben sich verkehrt: In der Hiobsgeschichte ist der Ursprung des Bösen außerirdisch- der Satan. Am Ende kommt Gott - im Wind - auf die Erde hinab, und Hiob bleibt fest im Glauben ob der Herrlichkeit der göttlichen Schöpfung. Er stirbt „alt und lebenssatt“. Entsprechend sitzt er bei Carpaccio als alter Greis vor der Landschaft des guten Lebens. In der Passionsgeschichte Christi hingegen ist der Ursprung des Bösen von dieser Welt: die menschliche Sünde. Die Erde ist dem Menschen ein Jammertal geworden und es ist die Verheißung der Wiederauferstehung, die von der Herrlichkeit Gottes kündet. Indem Carpaccio also in der „Meditation über die Passion Christi“ Hiob neben Jesus erscheinen läßt, erzählt er uns vom Zweifel an der reinen Jenseitigkeit des gläubigen Lebens und von der Sehnsucht nach der Herrlichkeit Gottes auf Erden.   

Seither sind Jahrhunderte ins Land gegangen. Auch wenn die Moderne sich durch eine „Ungastlichkeit gegenüber der Idee der Unsterblichkeit“ (Hans Jonas) auszeichnet, ist das Thema der Kreuzigung im Kunstschaffen präsent. Sicher kannte Francis Bacon auch die Darstellungen der Expressionisten, die teilweise dem Erlebnis des Ersten Weltkriegs geschuldet gewesen sein dürften. Doch was hat den - zwar figurativen, doch unnarrativen - und gewiss völlig ungläubigen Francis Bacon, den einsamsten unter den modernen Malern, zu diesem Thema bewogen? „Ich war schon immer tief gerührt von Bildern, die mit Schlachthöfen und Fleisch zu tun haben. Für mich gehören sie sehr ausdrücklich zum Thema der Kreuzigung. Es gibt erstaunliche Aufnahmen von Tieren, kurz ehe sie geschlachtet werden; und auch der Geruch des Todes gehört dazu. Wir können es natürlich nicht wissen, aber auf diesen Bildern sieht es so aus, als seien die Tiere sich völlig bewußt über das, was ihnen bevorsteht, und sie tun alles, um zu entkommen. ((Ich glaube diese Bilder verdeutlichen für mich eine Situation, die der Realität der Kreuzigung sehr, sehr nahe kommt. Ich weiß, daß die Kreuzigung für religiöse Menschen, für Christen, eine völlig andere Bedeutung hat. Aber für mich als Nichtgläubigen war sie eben ein Akt menschlichen Verhaltens, des Verhaltens eines Wesens einem anderen gegenüber.))“
Bacon, der während des Zweiten Weltkrieges in London lebte, malte 1944, im schrecklichsten Kriegsjahr, „Drei Studien für Figuren am Fuße einer Kreuzigung“. Sie sind das erste Werk, das er später als gültig anerkannte. Die Studien zeigen die menschliche Kreatur mit allem, was sie sich zufügt, was ihr zugefügt wird, was ihr widerfährt - ihr entfährt. Man sieht drei Menschtiere oder: drei Tiermenschen. Das erste Menschtier ist eine sich windende kauernde Gestalt (mit herabhängenden Miniflügeln statt Armen), das zweite Menschtier gleicht einem Puter, der langhalsig sein geöffnetes, die Zähne bleckendes Menschenmaul und die verbundenen Augen dem Betrachter entgegenreckt. Das dritte Menschtier ist ein einziger Schrei, der Schrei einer Hyäne, deren Hals und Kopf wie ein erigierter Penis emporstehen. Das Ende des Gliedes ist nur Ohr - und ein weitgeöffneter, allesschluckender Mund. 


Bei diesen drei Figuren, drei Rachegöttinnen, wie es scheint, gibt es in den Gesichtern nur Entstellung, keine Erinnerung, keine Rührung. Sie sind wie die Säuglinge -  der ganze Körper ist Ausdruck der einen großen Empfindung. Doch diese Empfindung liegt hinter ihnen. „Das Schlimmste ist bereits geschehen“ (John Berger). Die Figuren sind nicht mehr aus Fleisch und Blut, sie sind versteinert, grau, und das, was einst ihr Lebenselexir gewesen ist, ist ihnen längst entfahren: Alles um sie herum ist grell blutrot. Die ganze, von ihnen völlig abgetrennte Außenwelt ist von ihrem vergossenen Blut durchtränkt. Um diesen Figuren einen minimalen Halt zu geben, gibt es angedeutete Raumecken. Außerdem haben sie einen festen, begrenzten Grund auf Gegenständen, die der Zivilisation entstammen: Fell, Sockel, Tisch. Doch die Zivilisation ist kein fester Grund, und so halten sich die Figuren nur unter extremster Anspannung im Gleichgewicht.

Der tierische Anteil tritt bei Bacon den Kampf an gegen das Denkvermögen, das den Menschen hemmt, begrenzt. Bacon war ein figurativer Maler, doch keines der Bilder erzählt etwas. Ihm geht es darum, einige der Schutzschichten, die die Empfindungen gewöhnlich verhüllen, herunterzureißen, und näher an die einzelnen Empfindungen heranzugelangen. Die Suche nach Empfindungszonen, die zu einem tieferen Gefühl für die Wirklichkeit führen, steht im Zentrum seines Malens.   
Die Kreuzigung dürfte sich ihm bei dieser Suche als existentielles Motiv nachgerade aufgedrängt haben, denn bei dieser Todesart ist der Eintritt des Todes zwar gewiß, doch er wird lange hinausgezögert. Der Verurteilte „lebt“ (wenn man das noch so bezeichnen kann) ohnmächtig in der Spannung des Todes. Fast wie im täglichen Leben. Auf dem Triptichon „Kreuzigung“ von 1965  sind die Menschen nicht mehr in ihrer Haut, ihr Innerstes wurde gewaltsam geöffnet, ihre Nerven liegen bloß. Der Leib Christi windet sich wurmartig das Kreuz hinab, wie jenes Schlachtvieh, das seinem Schicksal entkriechen möchte. Das Schlimmste ist bereits geschehen: Der Leib ist gebunden und aufgeschlitzt, das Auge hängt losgelöst am Körper herunter. Als Ausdruck der noch vohandenen Qual hat Bacon eine Bewegung zwischen Innen und Außen hergestellt. Die Konturen sind aufgelöst. Dieser Christus ist noch am Leben - wovon auch die geballten Fäuste (oder sind es Stümpfe?) zeugen. Das Kreuz aber ist kein Kreuz. Eine Schlachtbank? Ein gestürzter Thron? 
Auch auf den Seitenflügeln des Triptichons erkennt man Figuren, die ihre Unversehrtheit längst eingebüßt haben: zur Linken eine auf einer bettähnlichen Unterlage sich windende, Leid ausströmende, in Auflösung befindliche Gestalt und daneben eine scheinbar für einen Akt posierende Figur, das Gesicht dem Bettgestell zugewandt. Zur Rechten  eine kauernde, Gewalt ausströmende Gestalt, und daneben zwei abwendende, kniende Maklerfiguren, die an Judas erinnern. Die Triebe des Lebens: die körperliche Liebe und das Geld.  Ist das das Leben vor dem Tode? 

„Ich glaube, daß der Mensch heute einsieht, daß er ein Zufall ist, ein zweckloses Geschöpf, das sein Spiel grundlos zuende spielen muß“, hat Francis Bacon einmal gesagt, und damit auch dem Leiden jeden Zweck und Zusammenhang abgesprochen. „Im Grunde ist man (im Angesichte des Todes) gänzlich ohne Hoffnung, und trotzdem ist das Nervensystem aus optimistischem Material gemacht.“ Die Sehnsucht nach einem „grundhaften“ Dasein, die verzweifelte Frage nach einem Am-Leben-Sein im Schatten des Todes, die aus diesen Sätzen spricht, durchzieht sein gesamtes Werk. Indem Bacon das Wunder von der Erlösung der Menschheit durch den Tod und die Auferstehung Christi thematisch aufgreift, wird einmal mehr deutlich, wie besessen, unmenschlich  ihm das (des Glaubens, der Erzählung) entblößte Leben erschienen ist. Dem modernen Menschen sind beide Leidensgeschichten abhanden gekommen: Der Glaube an die Herrlichkeit der göttlichen Schöpfung (eine Sinngebung des Leidens Hiobs) und der Glaube an die Auferstehung (eine Sinngebung des Leidens Jesu).  „Das Kreuz“, das Bacon in seiner Malerei auf sich genommen hat, ist, zu zeigen, wie der Mensch sich zerfleischt und zerfleischt wird: Die Marter der puren Gegenwart also.