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Marie Luise Knott
Die Geschichte vom schlafenden Jungen
Link zum Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Aharon Appelfeld: Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen
Wie lebt einer mit den erlebten Schrecken, deren Wirklichkeit er nicht erinnern kann? Wohin wirken diese Ereignisse weiter? Kann man sie bannen? Und wie erzählen, was man nicht begreift? Der Protagonist des jüngsten Romans von Aharon Appelfeld befindet sich 1946, zu Beginn der Handlung, als Überlebender in einem Aufnahmelager bei Neapel. Erwin, ein sechzehnjähriger Jude aus Osteuropa, ist unendlich müde. Schlafend ist er den Schrecken entronnen, gerettet von Menschen, die nach dem Krieg vorbeikamen und ihn mitnahmen. Sie fanden, trugen und schleppten den Jungen nach Neapel, ins Überleben. Später wird der Heranwachsende einzelnen seiner Retter wiederbegegnen, doch nicht er, sondern sie werden ihn wiedererkennen: „Du bist doch der schlafende Junge, den wir gerettet haben!“ Der Satz zieht sich durch das ganze Buch. Jede Rettung war ein Wunder, denn: „Im Krieg schrumpft der Körper und die Seele schwindet. Hunger und Kälte beherrschen dich, und du hast nur einen Wunsch: so schnell als möglich zu sterben.“
Das Ertüchtigungsprogramm einer zionistischen Gruppe, die sich im Lager gebildet hat, weckt die Lebensgeister des Heranwachsenden. Er trainiert mit der Gruppe und bricht schließlich auf, raus aus diesem Europa der Erinnerungslosigkeit, fort aus den Ruinen und den Massengräbern: auf ins verheißene Land. Doch ist das möglich?, fragt sich der Ich-Erzähler. Kann einer nach Flucht und Verfolgung tatsächlich alles abstreifen? Wo bleibt die Dankbarkeit gegenüber den Vorfahren, die Solidarität mit den Hoffnungen und Ängsten seiner Retter? Setzt er nicht, indem er sich von ihren Lebenswelten und Idealen abwendet und einwilligt, in Palästina ein Neuerer zu werden, die ganze Geschichte der Diaspora ins Unrecht? Diese Fragen treiben das Romangeschehen voran und machen die Aktualität des Werks aus. Die Neuankömmlinge sollen vergessen. Sie leben im Kibbuz, bauen Terrassen für Orangenbäume und lernen Hebräisch, unter anderem die Bezeichnungen für Eckstein und Grundstein: der Zukunft zugewandt.
Der lange Weg zum Eigenen in der fremden Sprache
Aharon Appelfeld, der israelische Schriftsteller, den der Schriftstellerkollege Imre Kertész schon vor Jahren als großen jüdischen Erzähler Osteuropas feierte, ist dank seines Verlegers Alexander Fest schon lange auch in Deutschland kein Unbekannter mehr. Er erhielt zahlreiche internationale Preise, 2005 hierzulande den Nelly-Sachs-Preis. Rechtzeitig zum heutigen achtzigsten Geburtstag hat Rowohlt mit „Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen“ den jüngsten Roman des Autors veröffentlicht, der die Grundfrage seines Lebens umkreist: Wie wird einer zum Schriftsteller?
Appelfelds eigene Geschichte gleicht nicht zufällig vielen seiner Romane, auch wenn er das Geschehen von seiner Wirklichkeit entfernt. 1932 in der Bukowina geboren, wuchs er als Erwin Appelfeld in der näheren Umgebung von Czernowitz auf, wo Juden unter Ruthenen, Deutschen, Rumänen und Polen damals die Mehrheit bildeten. Kaum eine Stadt und Kultur ist heute so versunken wie das Czernowitz von Appelfelds Kindheit, die mit dem Überfall der Deutschen im Juni 1941 schlagartig endete. Erwins Mutter wurde sofort ermordet, Vater und Sohn, er war damals neuneinhalb, gelingt zunächst die Flucht, doch im Lager werden sie getrennt. Der Junge entkommt, überlebt in den Wäldern, unter Dieben und Prostituierten, später als Küchenjunge bei der Roten Armee. Irgendwann, 1946, gelangt er, wie sein Romanheld, über Italien in das damalige Palästina. Es dauert lange, bis Appelfeld in der fremden seine eigene Sprache findet.
Um diesen Prozess geht es in dem Buch, das in siebzig kurze, episodenhafte Kapitel gegliedert ist. Mit jeder Episode kommt für die kurze Zeit des Lesens ein Bruchstück der Geschichte an die Oberfläche. Erwin, der sich, in Palästina angekommen, in Aharon umbenennt, um sich an die neue Welt anzupassen, kann nicht aufhören, sich in den Schlaf zu flüchten. Und nicht selten, wenn er die Augen schließt, hört er die Stimmen der Toten, die er zurückgelassen hat - seiner Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten. Diese inneren Autoritäten hadern mit seinen Entschlüssen. Manchmal fordern sie ihn auf, sie nicht zu vergessen, dann wieder delegieren sie gleichsam ihr nichtgelebtes Leben an ihn. „Mach dir keine Sorgen, ich werde immer bei dir sein, wohin du auch gehst.“ Sagt seine Mutter, die mit ihm hadert, weil er seine Muttersprache aufgeben will.
Keines der üblichen Narrative über die Schoa
Den Freunden Aharons ist eine solche Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart verwehrt: Marek, der Schweigsame, der weder seinen Nachnamen noch seinen Herkunftsort preisgibt, begeht bald nach der Ankunft im Kibbuz Selbstmord, Benno, der Mitstreiter mit den sanften Händen, der mit Aharon trotz anderslautender Direktiven im Krankenhaus auch deutsch spricht, versucht vergeblich, an die Kindheit anzuknüpfen und wieder Geige zu lernen. Doch die musikalischen Sehnsüchte, die während der Kämpfe in der Wüste in ihm aufleben, kann er nicht in seine Wirklichkeit integrieren. „Die Landschaften des Negev sind spirituell. Ich habe ein Gefühl, als verberge sich hinter jedem Hügel ein Orchester oder ein großartiges Quartett“, schreibt er. Einmal trifft Aharon einen alten Mann, den „letzten Flüchtling“, der mit seiner Frage, ob die Orangenplantagen „unsere Seelen“ leer machten, eine Grundangst des Romans berührt: Wer meint, die Geschichte zurücklassen zu können, ist nur ein halber Mensch.
Literatur schafft andere Wirklichkeiten, indem sie die Realität entmachtet. In dem Zwischenreich, das Appelfeld in seinen Romanen erschafft, sind nicht nur die üblichen Kontinuitäten der Beziehungen, sondern auch die üblichen Narrative über die Schoa ausgesetzt. Bei Appelfeld bekommen alle Personen und Positionen ihre Stimme, die Zionisten und die in Europa Gebliebenen, die Vertreter von Assimilation, Diaspora und Erez Israel. Die untergegangene Welt des rabbinischen Judentums, die verschwundene Welt der assimilierten Juden, die Nachbarn, Onkel und Tanten - ihnen allen verdankt der Junge im Roman sein Leben, und wenn ihre Geschichten nicht erzählt werden, sterben die Welten ein zweites Mal, endgültig vielleicht.
Der Erinnerung des Körpers eine Sprache geben
Appelfeld verbindet das alte und das neue Judentum, die Lebenden und die Toten. Damit er den Weg zu sich selbst und zu seinem Schreiben gehen kann, zahlt der Held zunächst einen hohen Preis: Erst nach einer Verwundung, die ihn lange paralysiert, findet der Junge zu sich und seiner Bestimmung: „Wenn Gott mir meine Beine wiedergibt, Vater, werde ich losziehen und den richtigen Ausdruck für das suchen, was uns geschehen ist“, sagt er, als ihm sein Vater im Schlaf erscheint.
Der innere Auftrag des Autors wie der seines Helden ist es, das Zersprengte zusammenzufügen, das Verlorene zu bergen und im Erzählen zu bewahren. Aber Erzählen ist bei Appelfeld kein Erinnern. „Meinem Körper hat sich die Irrfahrt besser eingeprägt als mir“, sagt er. Es ist der Körper, der sich bei Appelfeld erinnert. Hunger, Kälte, Liebe, Hingabe, Gewalt. Anders als Primo Levi oder Imre Kertész entrückt er das Erinnerte ins Märchenhafte, um das Vergangene, dem er in seiner Prosa Gegenwart verleiht, in Freiheit zu setzen und um die Erzählung entfernt vom Strom des öffentlichen Erinnerns anzusiedeln. Appelfeld beherrscht die Kunst des Weglassens. Seine Geschichten liefern kein authentisches Zeugnis, sie bauen auf physische Erinnerungen und körperliche Empfindungen. Durch die parataktische Erzählweise reiht sich Hauptsatz an Hauptsatz. Als der Protagonist die Klinik verlässt, liest man: „So verabschiedete er sich von mir. Ich hatte mir Worte überlegt, die ich zu ihm sagen wollte, aber sie waren von seinen wie weggeblasen worden. Ich brachte nur ein Danke heraus, das ich ihm hinterherrief, keine Ahnung, ob er es noch gehört hat. Seltsam, welche Wurzeln ich an diesem Ort, dem es doch derart an Privatsphäre mangelte, geschlagen hatte.“ - Das Leben besteht nicht aus Logik und Zusammenhang, sondern aus Ereignissen und Brüchen, aus Erscheinungen und Vorstellungen; zwischen jedem Satz und dem nächsten könnte sich alles wenden und alles ganz anders kommen. Außerdem hält Appelfeld in seinen Romanen stets die Figuren zueinander auf Distanz - Mitleid, Sehnsucht, Trauer und Hoffnung sind kalt.
Schreiben gegen den Zerfall der Geschichte
Sinnvolle Gemeinsamkeit, bemerkte der schottische Schriftsteller John Burnside, erwachse nicht aus einer aufgezwungenen offiziellen Geschichte, sondern aus der Verknüpfung unserer individuellen Allegorien-Geschichten. Solange wir diese Gemeinsamkeit nicht hätten, bleibe nur Trostlosigkeit. Die Allegorien-Geschichten von Appelfelds jüngstem Roman verbinden die Hügel der Karpaten, die Gebetbücher der Vorfahren, die Literatur S. Yishars und die Anpflanzung der palästinensischen Obstbäume. „Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen“ ist vielleicht Appelfelds schönstes und sanftestes Buch. Der Übersetzerin Miriam Pressler verdanken wir, dass wir in der deutschen Ausgabe an dem unscheinbaren und doch so tiefgründigen Prozess der Loslösung des Helden von eigenen und fremden rituellen Fixierungen teilhaben können. Man kann der Geschichte nicht entkommen, doch vielleicht kann man Gewalt und Trostlosigkeit etwas lindern, wenn man das offizielle Erinnern und die bloße Zukunftsorientiertheit entmachtet.
Auch dieses Buch birgt wie alle Werke Appelfelds ein Fragment der jüdischen Tragödie. Wenn man, das kabbalistische Bild vom „Bruch der Gefäße“ im Kopf, jeden Roman als eine Scherbe betrachtet, versteht man Appelfelds Lebensentscheidung, Schriftsteller zu werden, neu: als großartiges Projekt, angesichts der Katastrophe der Schoa im Erzählen das Versprengte zu bergen. Ihm gelingt es, für den Moment des Kunstwerks das Versprengte zu versammeln, das Zusammenleben der Lebenden und der Toten zu feiern und so gegen den drohenden Zerfall die Idee der Menschheit wachzuhalten.