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Marie Luise Knott

Deutschland im Dreck, eia weia weg

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Wie Robert Gilbert den Lebenshunger der Weimarer Republik und den Schock der NS-Zeit in Schlagerzeilen fasste

„Oh, mein Papaaa“, trällerte Lys Assia in fehlerhaftem osteuropäischem Deutsch und pries in Zeiten des Wirtschaftswunders die Wärme einer armen, aber familiären Zirkusidylle. Der Schlager stammte aus der Revueoperette „Feuerwerk“, die im Gegensatz zu dem darin enthaltenen Gassenhauer längst vergessen ist. Auch der Autor des Songs, Robert Gilbert, ist heute nur wenigen ein Begriff. Nur der Schlager blieb: „Oh, mein Papaaa war eine scheene Mann.“
Es war Erik Charell, der nach dem Krieg an die große Unterhaltungskunst der Weimarer Zeit anknüpfen wollte, die die Nazis in Sentimentalität und Biederkeit hatten ersticken wollen. Charell hatte in den zwanziger Jahren den Wintergarten geleitet, im Friedrichstadtpalast gewirkt und war 1930 mit der Uraufführung der Operette „Im Weißen Rössl“ reich und weltberühmt geworden.
Der Revuefilm „Der Kongress tanzt“ entstand auch unter seiner Regie. Für die Reime vieler Songs gewann er den genialen, vielseitig begabten Robert Gilbert. Der dichtete: „Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist?“, „Das gibt’s nur einmal“ und später „Oh mein Papaaa“.
Robert Gilbert, der sich piekfranzösisch „Robärr Jiilbärr“ aussprach, hatte mehrere Identitäten. Bürgerlich hieß er Robert David Winterfeld. Unter diesem Namen war er 1899 in Berlin geboren, auf Schwanenwerder in vornehmen Verhältnissen aufgewachsen, zum Philosophiestudium in Berlin und Freiburg zugelassen worden. Er kämpfte in der Zeit der Novemberrevolution im Spartakusbund und blieb in den zwanziger Jahren den Kommunisten verbunden. Um heiraten zu können, musste er Geld verdienen, und so trat er 1924 in die Fußstapfen seines Vaters, der – aus dem Zirkus kommend – unter dem Pseudonym Jean Gilbert als Operetten-Librettist reüssiert hatte. Sein Sohn tat es ihm nach, nannte sich Robert Gilbert und schrieb leichte Muse und abgründige Komödien, mit unglaublichem Witz, viel Ironie und jüdischem Esprit. Als David Weber dichtete er für Hanns Eisler, den linken Komponisten, der später mit Bertolt Brecht arbeitete. 1928/29 entstand aus dieser Koproduktion das „Stempellied“ („Keenen Sechser in der Tasche, bloß’n Stempelschein,/ durch die Löcher der Kleedatsche guckt die Sonne rein“), ein Song, der wie kaum einer das Lebensgefühl der Weimarer Republik traf.
Gilberts Hits eroberten tatsächlich die Gassen, wo sie geträllert, geschmettert und „gebumfidelt“ wurden. Darunter auch „Die Liebe der Matrosen“: „Wenn dich die Tränen rührn,/ Dann schwör’s mit tausend Schwürn,/ Ich muss man am Äquator,/ Die Linie frisch lackiern.“ Es klingt wie eine Parodie: Wo Malewitsch den weißen Vorhang vom Himmel reißen wollte, um die blaue Laterne zu sehen, wollte Gilbert den Äquator bepinseln. Alles ist endlich, treu sein ist passé, lautete Gilberts musikalische Devise. Wo Brecht mit moralischer Schwere formulierte: „An mir habt ihr einen, auf den Ihr nicht bauen könnt“, heißt es bei ihm: „Auf die Dauer lieber Schatz, ist mein Herz kein Ankerplatz!“ Die Schriftstellerin Mary McCarthy ließ diesen Song bei der Beerdigung der deutsch-jüdischen Philosophin Hannah Arendt 1975 im fernen Amerika spielen, weil sie wusste, wie sehr Arendt den Freund Gilbert im Herzen behalten hatte – und den verzweifelten Lebenshunger der zwanziger Jahre.
Komponisten, Dichter und Wortjongleure wie Gilbert, Eisler, Werner Richard Heymann, Charell, Ralf Benatzky oder Brecht brachten in einer Zeit, da E-Musik und E-Literatur immer experimenteller und elitärer wurden und die Unterhaltungsindustrie boomte, etwas völlig Neues hervor: „Die große Lyrik ist nicht mehr modern“, befand Gilbert programmatisch im „Weißen Rössl“. „Zu viel Gefühl ist nicht bekömmlich für den Teint!/ Auch große Arien singt man nicht mehr gern,/ In jedem Fall genügt auch ein Refrain.“ Ergebnis: Die Revueoperette, das spätere Musical. Wobei Gilbert nicht nur zur Volksunterhaltung dichtete. „Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste, was es gibt auf der Welt“. Und die Comedian Harmonists schmachteten im Viervierteltakt „Liebling, mein Herz lässt dich grüßen“.
Der Refrain war das Herzstück der entstehenden Musikindustrie. In der Machart von Heymann, Charell, Brecht oder Bernatzky verwandelte sich die Operette in eine Karikatur des schönen Scheins. Das Publikum, das eigentlich vor der Wirklichkeit in das erotisierte, leichtlebige Amüsement floh, wohnte an eben diesem Ort der Persiflage des eigenen Lebens bei. Im Abgedroschenen kam das Authentische zum Vorschein.
Von dieser subversiven Kraft der damaligen Unterhaltungsindustrie weiß man heute wenig. Auch nicht davon, dass Gilbert die „Spießerhöhlen weicher Gemütlichkeit“ (Hellmuth Karasek) karikierte und auch die Kultfiguren der Zeit, Nietzsche oder Rilke, nicht schonte. Die Tradition, der ganze Schatz der Bildung, (Heine, Goethe, Mörike) war genauso wie Redensartliches und Mundartliches zum Sprach- und Denkmaterial dieses Librettisten geworden, was sich noch in den schwärzesten Gedichten aus der Kriegszeit, der „Unzeit“ (Gilbert), wiederfindet: „Ihr sollt zusammenschlagen! Erst die Hacken/ Zweitens die Welt. Am Schluss die Hände überm Kopf.“
Das gab’s nur einmal, wusste man schon damals. Der aufstrebende Industriezweig der später von Adorno und Horkheimer so genannten „Kulturindustrie“ verlor nach 1933 seine wichtigsten Geister, auch wenn einige von ihnen noch eine Zeit lang in Deutschland gesungen und gespielt wurden. Charell und Gilbert, als Juden und Linke verfolgt, flohen Ende der Dreißiger unabhängig voneinander nach New York, wo das Musical en vogue war.
Gilbert traf es nicht so gut – wie man in der Autobiografie seiner Tochter „Das gab’s nur einmal“ (Diogenes, 2007) nachlesen kann. Er hatte „kein Auto und auch kein Rittergut“, doch der Broadway verschaffte ihm immerhin ein wenig Arbeit. Halb deutsch, ein wenig englisch. Daneben reimte er sich den Schock des Nationalsozialismus von der Seele. Auf den berlinerischen Abzählreim „Eene meene ming mang“ dichtete er: „Lott’ is dot – die war rot./ Vater liecht im Jraben./ Fett is nich zu haben./ Icke dette kieke mal,/ Deutschland liecht im Dreck./Ose pose packe dich / eia weia weg!“
Nur wenigen gelang nach 1945 ein Comeback. Der Weimarer Vulkantanz war Geschichte, ragte in die fünfziger Jahre jedoch als Erinnerung an die todglückliche Zeit. Gilberts Schlager „Am Sonntag will mein Süßer mit mir segeln gehen“ brachte es 1961 – 30 Jahre nach seiner Entstehung – auf den ersten Platz der Hitparade. Das „Weiße Rössl“ tingelte als Remake durch die Lande, viele der Revuetheaterstücke wurden verfilmt. Gilbert blieb unbekannt, aber er schrieb Nachkriegssprachgeschichte mit der Übersetzung von nahezu 20 Musicals, darunter „My Fair Lady“ („Es grient so grien, wenn Spaniens Blieten bliehen“).
Gilbert war gewiss ein treuloser Liebhaber: Seine Frau Elke verließ er bald nach der Rückkehr nach Europa 1949. Seine Tochter Marianne vernachlässigte er schon früh, wie sie im Buch erzählt, aber „mit viel Herzensgüte“. Das trifft vermutlich den Nagel auf den Kopf. Gilbert hat auch Unmengen von Briefen hinterlassen. Sie alle sind warmherzig und nahe am Abgrund von Kitsch und Sentimentalität, etwa im Briefwechsel mit Heinrich Blücher und dessen Frau Hannah Arendt.
Als Gilbert Hannah Arendt 1969 bittet, ein Nachwort für ein Buch zu schreiben, will er ihr ein wenig zuarbeiten und verfasst eine „Selbstkritik in löblichstem Sinne“. Darin heißt es: „Er schielt nach keiner Unsterblichkeit, blickt lieber geradeaus in die gegenwärtigen Gassen, wo das Leben so oder so gelebt wird und wo die Lebendigsten oft sterben müssen für eine tödliche Idee.“ Tödliche Ideen gab es in Gilberts Lebenszeit mehr als genug.
Marianne Gilbert Finnegan liest heute aus ihrer Autobiografie im Garten des Jüdischen Museums (18 Uhr); dazu singt Christine Eichel Lieder von Robert Gilbert. Moderation: Christoph Stölzl.