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Marie Luise Knott

Zu Antonio Calderara ’Senza Titolo, 1958’ und ‚Spazio Luce 1960/61’, in Verführung Freiheit. Kunst in Europa seit 1945, 2012. Europaratsausstellung, hg. von Monika Flacke, DHM 2012

 

Herausgeber: Monika Flacke für das Deutsche Historische Museum, Berlin

352 Seiten, 306 farbige Abb., 28 x 21 cm, Flexcover, Erschienen 17.10.2012, ISBN 978-3-942422-90-1

 

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Reg.-Nr. 09_162
Antonio Calderara
Senza Titolo
Ohne Titel, 1958
Aquarell, 13,4 x 13,4 cm
Galerie R. Walser, München 

 

Reg.-Nr. 09_161
Antonio Calderara 
Spazio Luce
Raum Licht, 1960/61 
Öl auf Holz, 60 x 73 cm 
Galerie R. Walser, München 

 

›Ohne Titel‹ lautet der Titel des Miniatur-Aquarells des italienischen Malers Antonio Calderara, das mit reduzierten Mitteln ein Häuserensemble darstellt: zwei weiße Wände rechts und links, auf der linken ein zartgrünes, zweigeteilten Fenster, im Hintergrund, kleiner, zwei weitere Hauswände mit je einem orangeroten und einem blauen Dach. Durch den Spalt zwischen den Häusern schimmert oben himmelblau der Himmel und unten wasserblau das Wasser. Zwischen den Häusern der Horizont – eine Linie, die Luft von Wasser scheidet. Vier Häuser am See. Gegen das Gelblichweiß der vorderen Wände setzt sich das Zartrosaweiß der hinteren Häuser leuchtend ab. Minimale Farbabweichungen kennzeichnen das Bild.

Jeder Künstler hat seine eigene Art, sich den Fragen seiner Zeit zu stellen. Caldera erkundet in ›Ohne Titel‹ nicht nur die Möglichkeiten der Landschaftsmalerei, sondern befragt im gleichen Pinselstrich auch die Tragweite der Abstraktion, denn vertikale und horizontale Linien dominieren das Bild. Die Ober- und Unterkanten des Fensters setzten sich fort in den Oberkanten der Hausdächer und in der Horizontlinie; es ist, als sei das Fenster nur in die Wand eingefügt, um die Vertikalen und Horizontalen zu betonen und so die minimalen Farb- und Lichtabstufungen von Blau, Rot und Weiß hervorzuheben. Das Bild ist von größter Harmonie und Ruhe, dafür sorgt die Proportion 2 : 1, nach der Flächen und Linien ausgerichtet sind. Die Fläche des Fensters und die Fläche des Wassers entsprechen einander. Kein Element stört den Eindruck von Strenge und Ebenmaß. 

Antonio Calderara, 1903 in der Nähe von Mailand geboren, verbrachte den Großteil seines Lebens am Lago d’Orta, dem Ortasee, und hat in seinem schmalen Œuvre einige wenige Motive aus seiner Umgebung wiederholt: Häuser, Schiffe, Mädchen, Frauen, Wasser, Vasen. Anders als sein Landsmann Giorgio Morandi (1890–1964), der Stilllebenmaler, der es sich zum Konzept erhob, alltägliche Gebrauchsgegenstände wie Schalen, Becher, Flaschen und Vasen miteinander in immer neue Beziehungen zu setzen, folgt Calderara bei der Wahl der Bildmotive keinem seriellen »Konzept«. Seine Bildwelt ist geprägt von der Auseinandersetzung mit dem heimatlichen Licht: »Die Bedeutung der Landschaft des Lago d’Orta in meiner Malerei ist dadurch begründet, dass das Licht hier nicht heftig ist, ich möchte sagen: ruhig, opak, von delikater Transparenz, reich an zarten Farbwerten, hell in seinen Grautönen, warm zur Zeit der Dämmerung, klar in der Frühe.« Sein Licht evoziert nicht das Licht göttlichen Ursprungs, wie wir es aus Werken des Mittelalters oder der Monochromen (etwa Joseph Marioni) kennen, sondern es erinnert an das sinnlich erfahrbare Licht der Renaissance; nicht von ungefähr bezog Calderara sich gerne auf Piero della Francesca. 

Das »Malen im rechten Winkel«, diese Hinwendung zur radikalen Malerei, entstand, wie Calderara immer wieder betonte, aus einem Schock. Er, der Jahrzehnte als traditioneller Maler wirkte und sich gerne als »pittore« bezeichnete, hat spät erst seinen Weg der sich radikalisierenden Reduktion beschritten, als er in den 1950er Jahren – mit Verspätung, sollte man meinen – den Werken von Piet Mondrian (1872–1944) und Josef Albers (1888–1976) begegnete und seine Kunst plötzlich völlig neu dastand, als eine im Sinne Hans Sedlmayrs »in sich ruhende kleine Welt eigener und besonderer Art«, und als »Vorstoß in ein Erkenntnisfeld, das bis zum Augenblick dieser formalen Bewältigung noch nicht ›vorlag‹«.

Worin besteht Calderaras »Vorstoß« in ›Ohne Titel‹? Mit der Entscheidung für die Zweidimensionalität und für die Alleinherrschaft von Vertikale und Horizontale hat Calderara sich »seine« dritte Dimension erobert, die Dimension des Lichtes. Calderara verwandte mitunter als Hilfsmittel Blätter aus Kästchenpapier, auf denen er durch horizontale und vertikale Striche die Fläche eroberte, gliederte und unterteilte. Mit Hilfe solcher Schemenblätter wies er seinen ursprünglich der Natur nachempfundenen Motiven auf dem Bildträger ihre Form und ihren Platz zu, um zu einer neuen Dimension der Natürlichkeit zu gelangen – immer auf der Suche nach dem Licht, »das sich von Mal zu Mal aufklärt für mich und an sich, bis es zum einzigen, bewusst und verantwortlich handelnden Moment meiner Malerei wird«. Denn es ist das Licht, das, obgleich zumeist unsichtbar, alles mit Leben erfüllt und allen Dingen ihre stoffliche Wahrnehmbarkeit verleiht. In den farblichen Abstufungen erhalten die Rechtecke auf dem Trägergrund ihre Tiefe, wird das Licht zur Quelle ästhetischer Kontemplation. Was er bei Mondrian im Alter von fünfzig Jahren für sich entdeckte und erschloss, war ein neuer künstlerischer Möglichkeitsraum, ein starker formaler Impuls für seine ureigenste künstlerische Frage. Die Körper und Gegenstände scheinen bei Calderara nur mehr in dem Maße zu existieren, wie sie durch das Licht erhellt und moduliert werden. So holt er die weltschaffende Dimension des Lichtes ins Bild. 

Das Öl-Bild »Spazio Luce«, gemalt 1960/61, erhellt mehr noch als das Bild ›Ohne Titel‹ von 1958, welchen Vorstoß Calderara unternahm, als er das »Wissen« der Abstraktion in seine konkrete Bildwelt hineinholte, ohne diese aufzugeben. »Spazio Luce« – ›Raum Licht‹, wie die Übersetzung lautet – ist ein Lichtspalt im Licht: Zwischen den hellweißen Flächen rechts und links, taucht ein dünner Farbstreifen auf, der in Blau, Rot und Gelb von Haus, Sand, Himmel und Wasser kündet und so auch die weißen fensterlosen Flächen als Häuser in der Erinnerung wachhalten kann. Ob die rein abstrakt gemalten Bilder alle auf konkrete Bilder oder Erinnerungen hin gedeutet werden können, ob beispielsweise die drei gelb-orangenen Quadratensembles von »Pittura« (1970/71) tatsächlich auch drei Mädchen darstellen, die mit dem Rücken zum Betrachter auf einer Bank sitzen, wird Calderaras Geheimnis bleiben. Er selbst schreibt: 

»Spazio Luce
Das Bild auf reine und einfache 
geometrische Gestalt gebracht. 
Geistige Konstruktion, 
orthogonale Geometrie nicht Selbstzweck, 
Vertikal-Horizontalstruktur, 
in der die Farbe atmet 
gleich menschlicher Poesie.« 

 

Calderaras Bildsprache ist eine Semiotik, die auch in höchster Reduktion noch als Sprache funktioniert. Auch in ›Raum Licht‹, dem fast vollständig weißen Bild, das aus der Allgegenwart des Lichtes lebt, ist ihm Geometrie kein Selbstzweck. Das Orthogonale ist zwar ein geistiges Konstrukt, allerdings nicht darauf angelegt, »hinter den veränderlichen Formen der subjektiven Erscheinungen« die »unveränderlichen Realitäten« und die Gesetze des Universums zu erkunden und einzuüben, wie es Mondrian gewollt hatte, der dreißig Jahre lang unbeirrt, angeblich mit dem Rücken zum Fenster, sein Gleichgewicht aus Linien und Farben zu perfektionieren suchte, fest davon überzeugt, dass in Zukunft rein abstrakte Beziehungen allen anderen absolut überlegen sein würden. Ein derartiger Ikonoklasmus ist Calderaras Sache nicht. Seine Bildrealität hat den Ausdruck unserer Wirklichkeit immer im Blick. Die Nachahmung der Natur nämlich ist, auch wenn viele Kunstkritiker ihr Ende mehrfach ausgerufen haben, in der Kunst als Auftrag nie ganz verschwunden, auch dort nicht, wo – wie bei Calderaras ›Ohne Titel‹, und erst recht in seinem Spätwerk – kein Pinselstrich der Natur folgt, sondern alles von der Form des Bildträgers – dem Rechteck – generiert erscheint. Calderara, der Maler vom Ortasee, hält im Fragment an der Landschaftsmalerei fest. Seine Farbmodulationen leuchten und weiten den Atem des Betrachters. Abgeschieden von den Düsternissen des Zeitgeschehens und abgeschieden von den ästhetizistischen Begründungszwängen der puren Abstraktion ist der Lokalmaler in seinen radikalen späten Arbeiten dem Prinzip der universellen Vereinfachung gefolgt, ohne je das Lokale zu verlassen.