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Marie Luise Knott

„Zu Alberto Giacometti ’La cage (première version) 1949/50’“, in Verführung Freiheit. Kunst in Europa seit 1945,  2012. Europaratsausstellung, hg. von Monika Flacke, DHM 2012 (Digitaler Katalog)

Herausgeber: Monika Flacke für das Deutsche Historische Museum, Berlin
352 Seiten, 306 farbige Abb., 28 x 21 cm, Flexcover, Erschienen 17.10.2012, ISBN 978-3-942422-90-1

 

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Alberto Giacomettis Skulptur ›Der Käfig (erste Fassung)‹ gründet auf einer dicken quadratischen Sockelplatte. Zwischen den vier Eckstäben, die von dem Sockel abgehen und oben, am Ende, von vier horizontalen Stäben parallel zum Boden gehalten werden, befindet sich ein Zwischenplateau, das der Sockelplatte gleicht. So entstehen trotz aller Offenheit zwei geschlossen wirkende Räume. Der untere, aufgrund der beiden schweren Platten und der geringen Höhe eng wirkende Raum ist leer. Auf dem Zwischenplateau befinden sich zwei Figuren: In der Mitte, unmittelbar dem Betrachter zugewandt, steht eine fadendünne Frauengestalt, die durch die Verbreiterung und Verschmelzung der Füße mit dem Zwischenplateau festen Stand hat und mit nach rechts und links ausgreifenden Armen dasteht. Die Arme sind nicht gestreckt, sondern leicht gebeugt. Die Hände berühren die Stäbe. 

Wozu benötigt die Figur den Sockel? Wozu die Stäbe? Es ist, als schaue die Figur aus dem Käfig heraus. Als suche sie etwas. Als nehme sie Verbindung mit einer Außenwelt auf, mit etwas jenseits des Betrachters. Gibt es dort, außerhalb des Käfigs vielleicht andere, für den Betrachter unsichtbare Wesen und Welten? Aus anderen Zeiten, aus anderen Räumen? Weiß diese zeitlos wirkende Figur von alters her etwas? Etwas, das ihrem oder unserem Erscheinen vorausgeht? 

Dort, wo die Hand den linken Seitenstab umfasst, erkennt man eine Verdickung, die andere Hand ist leicht abgeknickt, als berühre sie den rechten Seitenstab kaum. Dadurch entsteht der Anschein, die Figur sei aus der Mitte des Käfigs nach links gerückt. Überhaupt: Die Proportionen der ganzen Plastik sind von großer Harmonie, Körper und Arme der Figur verstärken diese Schönheit. 

Die Skulptur ist aus Bronze. Für die Gussvorlage hat Giacometti zunächst eine Drahtarmierung hergestellt und um den Draht mit Händen, Messer und Gips die Formen der Stehenden und der Seitenstäbe modelliert. Die Plastik lebt nicht zuletzt aus dem Kontrast: Obwohl aus Bronze gegossen, ist in der rauen Oberfläche der Gips noch ablesbar; die kalte und harte Figur ist noch als fragiles Geschöpf der Künstlerhände zu erkennen. Ohne den Käfig hätte die Stabfigur keinen Halt.
Links erkennt der Betrachter, der frontal vor der Frauenfigur steht, eine Männerbüste, die aus dem Raum zur Seite herausblickt. Der Kopf, ein Archetyp aus Giacoemttis Figurenwelt, reicht der Stehenden bis zur Hüfte und verströmt wie alle Figuren des Künstlers eine konzentrierte Kraft, ein Staunen darüber, dass etwas ist und nicht vielmehr nichts, dass der Mensch existiert und nicht von allem Andrängenden zermalmt oder erdrückt wird; es gibt offenbar eine Kraft, die ihn im Dasein und zusammen hält. Die Kraft der Büste geht von den Augen aus, wie es nach Alberto Giacometti der Blick ist, der die Toten von den Lebenden unterscheidet. Außerdem hat der Kopf – das erkennt man, wenn man um den Käfig herumgeht – zwei verschiedene Seiten, eine flache und eine körperlich gerundete, als läge, wie beim Berg, die eine Seite in der Sonne und die andere im Schatten, wo die Konturen verschwinden. 

Der Giacometti-Biograf James Lord hielt die erste Fassung des Käfigs für eines der bedeutendsten Werke des Künstlers. Auf einem der Wandfragmente, die 1972 aus seinem Atelier abgelöst wurden, gibt eine der Skizzen des Künstlers Auskunft über den visuellen Impuls zu dieser Käfiginstallation: Man sieht eine Frau, die an einem Fenster steht und zwei Vorhangbahnen auseinanderschiebt. »Die Frau hatte erhobene Arme und ausgestreckte Hände, als Plastik wird so etwas schnell unmöglich«, erläuterte Giacometti seine Beobachtung am 28. Dezember 1950 in einem Brief an seinen New Yorker Galeristen Pierre Matisse. Festgehalten ist also der Augenblick, in dem die Frauenfigur die Intimität des Raumes auflöst, in dem sich das Innen wieder öffnet für das, was außen geschieht. Signalisiert dies das Ende einer Vereinigung? Eines Liebesaktes?

Die beiden Figuren im Käfig haben von sich aus keine gemeinsame Körper- und Raumdimension, sie schauen nicht in eine gemeinsame Welt, sondern – beide unwiederbringlich allein – in verschiedene Richtungen. Doch es gibt ein Konstrukt, den Käfig, der ihre Welt offenbar zusammenhält. Material und Oberflächenstruktur sind identisch und verweisen auf den gemeinsamen (künstlerischen) Schöpfungsakt. 

Nachdem Alberto Giacometti sich Mitte der 1930er Jahre vom Surrealismus abgewandt hatte und im Umfeld des Existenzialismus neue Wege der Darstellung suchte, revolutioniert er in den 1940er und 1950er Jahren alle bisherigen Sehweisen. Seine Skulpturen lassen die klassische Idee von der Nachbildung im Raum hinter sich. Er entscheidet sich, das bis dahin vorherrschende perspektivische Sehen zu verlassen. Eine konkrete, mehrfach kolportierte Beobachtung steht am Anfang dieses Wandels. Nach einer Begegnung mit seinem Modell Isabel Delmer in Paris beobachtete er, »wie Isabel sich auf dem Boulevard Saint Michel von ihm entfernt, kleiner und kleiner wird, ohne dass sich ihr Bild, die visuelle Erinnerung, verlor«.

Wie diese Erfahrung, so reflektiert auch die Skulptur ›Der Käfig (erste Fassung)‹ eines der Hauptthemen von Alberto Giacomettis Kunst: die Verankerung des Menschen im Raum. Jean Paul Sartre sprach 1950 anlässlich einer Giacometti-Ausstellung vom »Rätsel der Begegnung und des Raumes« : »Vom anderen geht in meinem Raum eine Räumlichkeit aus, die nicht die meine ist.« Die Skulpturen schaffen sich Raum und begrenzen so den Raum des Betrachters, den sie auf diese Weise ihrerseits schaffen und beleben. Giacometti sprach nach der Erfahrung mit Isabel Delmer wiederholt darüber, erst in der räumlichen Distanz werde der andere überhaupt als ganz anderer, anders gesagt: als anderer Ganzer wahrnehmbar. Erst die Distanz erwecke den Eindruck, aus nächster Nähe sei der andere gestaltlos, aus der Nähe hinterlasse er keinen Eindruck.
Der Betrachter begegnet im ›Käfig‹ Figuren, die ihr individuelles Leben bereits abgelegt haben. Da ihnen keine Eigenschaften mehr anhaften, mit denen der Betrachter sich identifizieren oder von denen er sich abwenden möchte, rufen die Figuren, ähnlich wie die Protagonisten in Franz Kafkas Prosa, Grundgefühle oder: Modelle von Gefühlen hervor, wie sie sich normalerweise nicht aus der Begegnung mit wirklichen Menschen ergeben, aber allen Begegnungen zugrundeliegen: Nähe, Distanz, Wärme, Hast, Ruhe, Kälte, Stärke. Giacometti beharrt auf der Figur; er gibt sie nicht auf, so klein, so schmal, so fern sie auch sein mag.

Im »Manifest des Surrealismus« (1924) hatte André Breton den Rationalismus angeprangert und erklärt, dass die Erfahrung sich im Käfig der Logik winde. Auch Giacometti hatte in seiner surrealistischen Phase 1930/31 mit dem Konstrukt des Käfigs experimentiert. In seiner Holzplastik »La cage« (Der Käfig) von 1930/31 sieht man mit Kamm, Blatt, Frucht und Löffelfrau Objekte der Natur, der Sehnsucht und der Sinnlichkeit in das Gestell eingezwängt, zur Reglosigkeit verdammt. Als der Künstler Ende der 1940er Jahre das Motiv des Käfigs wieder aufgriff, verfolgte er eine andere Idee: Nach ›Der Käfig (erste Fassung)‹ (1949/50) schuf er 1950 die Plastik »La cage (Femme et tête)« (Der Käfig [Frau und Kopf]), einen auf Stelzenfüßen stehenden Kasten, wieder mit zwei Figuren darin, einer Stehenden und einem Männerkopf. Im selben Jahr entstand außerdem die Kasten-Skulptur »Figurine dans une boîte entre deux boîtes qui sont des maisons« (Kleine Figur in einer Schachtel zwischen zwei Schachteln, die Häuser sind). Zwar nicht in einem Käfig, jedoch in einer auf vier Füßen stehenden »Schachtel« aus Bronze schreitet darin eine Frau von einem »Haus« zum anderen. In der Schachtel ist die Figur den Gefahren der Außenwelt entrückt. Sie ist ganz bei sich und vermittelt den Eindruck, die ein-gefasste Schönheit sei die schönste Schönheit. 

Gemeinhin denkt man sich – ähnlich wie die Surrealisten – den Käfig als ein Gefängnis, von den Herrschenden zum Zwecke der Freiheitsberaubung erfunden; und nicht selten werden sie benutzt, um die Natur der eingesperrten Kreatur zu deformieren. Käfige erzwingen, so wird meist angenommen, das Verbleiben im Zustand der Unmündigkeit. Doch der Dichter Jacques Prévert, mit dem Giacometti in seiner surrealistischen Zeit befreundet war, schrieb dem Käfig 1945 in dem Gedicht »Pour faire le portrait d’un oiseau« (Anleitung einen Vogel zu malen) eine andere Aufgabe zu: »Peindre d’abord une cage«, lautet der erste Satz. Die Lebewesen, die Préverts Maler ebenso wie Giacometti mit den »toten« Materialien Farbe, Gips, Stift oder Pinsel in ihrer Vorstellung erschaffen, bedürfen des Käfigs, um erscheinen zu können; der Käfig nämlich bietet den notwendigen Schutz und Halt, er ist zum Ort und Garant der Freiheit geworden. Hier kann sich, wie auf der Theaterbühne, Wirkliches und Erdachtes, Vergangenes und Ersehntes beleben. 

Giacomettis Käfige von 1950 sind solche Räume der Freiheit, die seinen zeitlosen und alterslosen Figuren Schutz und Halt in der Welt gewähren. »Der Käfig« entsprang, so Giacometti, »dem Wunsch, den Sockel aufzugeben und einen ›begrenzten‹ Raum zu haben, um besser einen Kopf und eine Gestalt zu schaffen«. Er selbst hatte als Kind beim Spielen in den Höhlen des schweizerischen Bergell den eigenen Körper in seinen Konturen und als Raum erfahren; mit dem Käfig wollte er nun den Raum, der jeder Figur eigen ist, und den Raum, der sie umgibt, erkunden. 
Doch Alberto Giacometti, der wusste, dass der Raum eine Imagination ist, deren Wirklichkeit er studieren musste, gab das Motiv des Käfigs nach einigen Versuchen wieder auf. Vielleicht, weil der Käfig die Verbindung zwischen dem Raum der Figur und dem Raum des Betrachters zu deutlich unterbricht, wie man bei ›Der Käfig (erste Fassung)‹ erkennen kann. Giacometti setzte seine Figuren fortan verstärkt wieder auf verschiedenste Variationen von Sockeln, die Raum beanspruchen, eingrenzen und verteidigen, ohne eine klar definierte Schranke zwischen der Figur und dem Betrachter herzustellen. Seine Sockel weisen den Figuren im Raum des Betrachters einen eigenen Raum zu, ohne dass der Künstler explizit draußen und drinnen scheiden und auf diese Weise unumstößliche Grenzen setzen würde. 

Mit den Käfigen hat sich Giacometti, dessen Werk nach den »letzten Tagen der Menschheit« (Karl Kraus) einsetzt und nicht von ungefähr die Fragilität des Daseins und dessen Schutzbedürftigkeit inszeniert, ein Konstrukt geschaffen, das Freiheit nicht als Befreiung vom Anderen, sondern als ein Sich-frei-Setzen zum Anderen begreift. Je mehr die Menschen sich an die Konstrukte, die sie sich geschaffen haben, gebunden wissen, desto größer ihre Freiheit zu handeln, glaubte schon Immanuel Kant, der das Recht als »Inbegriff der Bedingungen« verstand, »unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«. Dieses »zusammen« ist als Aufgabe bis heute ein Wagnis.