Marie Luise Knott

Die Zeit der Zitate ist zurück


Zur Tagtigall im Perlentaucher

 

30.07.2018. Zweisprachig, mehrsprachig, mischsprachig: Der tschechische Surrealist Ivan Blatný verteidigte mit seinen Gedichtcollagen den Geist Europas noch in der englischen Psychiatrie. Eine Wiederentdeckung.

"wenn es zeit ist für orangen, ist keine Zeit, no time at all, für nichts. ich esse nur orangen, at least they exist, wenn sonst nicht viel ist .... ". So dichtet Uljana Wolf in ihrem letzten Band in mehr als zwei Sprachen das "Annalog von den Orangen" - freie Verse, verfasst nach den Worten der Freud-Patientin Anna O. In der Fixierung auf die Orangen werden die Früchte zum Ort der inneren Freiheit und ganz nebenbei springt einem irgendwann die sprachmaterielle Verwandtschaft von Organen und Orangen ins Auge. Wer Wolfs Worte der Anna O. hört, erkennt: hier verwebt eine das Englische und Deutsche zu einem Sprachgemisch, nicht so sehr aus einer biografischen Not (Flucht oder Emigration), sondern aus einem Gefühl des Reichtums heraus. Denn Sprachen denken verschieden. Und sie schmecken verschieden. Warum sollte man in diesen globalen Zeiten solche Pluralität nicht zum Klingen bringen?

Als der Autor Ivan Blatný Ende 1919 in Brno / Brünn, zur Welt kam, war die Tschechische Republik gerade ein Jahr alt. Die Stadt war zweisprachig. Ein Teil der Bewohner sprach Deutsch, ein anderer Tschechisch. Es gab auch eine Mischsprache, Tschechisch mit deutschen Lehnworten, Hantec genannt. Die Sonne hieß "zoncna", die Socke "fusakle" und das Herz hieß "hercna". 

 

Ivan Blatný wuchs im Tschechischen auf und studierte Tschechisch, Deutsch und Esperanto an der Universität. André Breton, der 1935 nach Brno reiste, war begeistert von den Surrealisten, die der Dichterfreund Vítězslav Nevzal ihm vorstellte, darunter die Malerin Toyen und den Dichter Blatný, der damals gerade mal 16 Jahre alt war. Als 1940 sein erster Gedichtband in einem großen Prager Verlagshaus erschien, war seine Heimat bereits seit einem Jahr unter nazi-deutscher Besatzung: "Protektorat Böhmen und Mähren" wie das hieß. Blatný, Mitglied der "Gruppe 42", einer verschworenen avantgardistischen Kunstgemeinschaft, trat 1945 wie so viele Kollegen hoffnungsfroh der Kommunistische Partei bei und seine Gedichte schrieben fortan Gegenwart. Doch im März 1948, mit einer offiziellen Delegation nach London entsandt, setzte er sich ab und kehrte nicht nach Prag zurück. Er hatte genug gesehen von den Einschwörungen auf den "richtigen" Sozialismus. Die Angst vor dem langen Arm des tschechischen Geheimdienstes verließ ihn nie. 


Die zahlreichen Geschichten, die darüber kursieren, was der Dichter nach seiner Ankunft in London tat und wie es ihm ergangen ist, tun hier ebenso wenig zur Sache wie die Aktionen des tschechischen Geheimdienstes gegen ihn. Blatný – 1954, von der Polizei als "Exhibitionist" aufgegriffen – lebte fortan bis zu seinem Tod 1990 in psychiatrischen Kliniken (mehr hier), wo ab den 1970er Jahren eine Krankenschwester namens Frances Meacham für seine Wiederentdeckung sorgte. Meacham sammelte seine Kritzeleien, teils mit Bleistift und auf Toilettenpapier verfasst, organisierte ihm Stifte, Papier und einen Schreibtisch in der Anstalt und sandte die Texte an Tschechen im Ausland. Ob er erfahren hat, dass im Frühling des Jahres 1968 in Brno sein Gedichtband von 1941 wiedergedruckt wurde? "Hilfsschule Bixley" erschien erstmals unter eigener Mitwirkung im Prager Samizdat, kurze Zeit später in einer anderen Auswahl auch in einem kanadischen Tamisdat-Verlag. 

Blatnýs Werk ist tief geprägt von den beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Zwischen 1940 und seiner Flucht 1947 konnten mehrere Gedichtbände erscheinen, da wohl (der fremden Sprache wegen?) die Zensur der Nazis sie nicht als politisch einstufte. Mochten die tschechischen Kommunisten ihn nach seiner Flucht für tot erklären, ihn "entartet" nennen, weil seine Art des realen Surrealismus sich dem Realsozialismus widersetzte: Da lebt einer 35 Jahre in den Irrenanstalten dieser Welt mit neun anderen in einem Zimmer auf einer Krankenstation namens Bixley und schreibt und schreibt, immer noch im Bann der "Droge Kunst", die er seit seinen ersten Gedichten genossen hatte. Ohnehin hatten die Künstler des Surrealismus sich Traum und Wahn als jenen Zuständen verbunden gefühlt, die angesichts der Dissoziierung der Welt in der Moderne der Kunst halfen, sich ihrerseits den Dissoziierungen auszusetzen. 

In den Gedichten der "Hilfsschule Bixley" schließt sich der Kreis zwischen Erinnerung und aktuellem Erleben, knüpfen sich abrupt abgerissene Zeitfäden neu: Orte der mährischen Kindheit werden besungen, manch vergessener Dichter- und Malerfreund kommt wieder ans Licht, darunter Lhotek, Kolar und die "alte Blaskova" - und plötzlich fragt man sich, was aus der Kindheitsfreundin namens Milča geworden ist, die wohl während seiner Studienzeit splitterfasernackt am Ofen in seinem Prager Zimmer stand und der er seine Gedichte auf Deutsch rezitierte, weil Milča "Deutsche war". 

Das erstaunliche an Blatnýs Gedichten aus der Psychiatrie, die jetzt in einer sehr freien und überzeugenden neuen Übertragung von Jan Faktor und Annette Simon erschienen sind, ist die Vielsprachigkeit, aus der Idee der Collage geboren. "Ich möchte Collagen machen", sagt er einmal. "Ich möchte Anleihen machen. Die Zeit der Zitate ist zurück." Manche Gedichte springen zwischen den Sprachen, manche sind ganz einsprachig, ganz tschechisch oder auch ganz englisch. Bei anderen mischen sich französische und deutsche Worte hinein. Mitunter wechseln die Sprachen gar innerhalb der Zeilen. 

 

Der Weg ist mit Sternen übersät

La route est semée d'étoiles 
und eine Symbolgestalt geht durch dunkle Haine 

Wer hätte gedacht dass eine Hummel stechen könnte
die kleine Filzkugel

Die Hummel ist ein Hochzeitssymbol im Gedicht in der fremden Wohnung
oberhalb der Stadt hummelt ein Flugzeug 

The guest star is Bing Crosby 
the guest star is Bob Hope

The bumble-bee may be also called humble-bee
they humbly suck the nectar 
without being able to build a hive.

 

Im Anhang haben die Übersetzer uns Entschlüsselungshinweise gegeben, mit denen Blatnýs Innenwelt sich uns entfalten kann: "La route est semée d'étoiles" ist ein Filmtitel, der im Original "Going my way" hieß, während die "Symbolgestalt im dunklen Haine" (2. Zeile) auf einen Vers von Baudelaire anspielt und das "Gedicht in fremder Wohnung" ein früheres eigenes Gedicht mit einer Hummel in den Kontext hineinruft. Lauter Hinweise auf den eigenen Weg - "going my way" eben. 

Sein Programm hier in Bixley: "Bald machen wir uns auf den Weg und zeigen diese Gedichte dem jungen Blatný". Werden seine Erinnerungen und vor allem: werden die Verse dem Auge des jungen Dichters, der er einst war, standhalten können? Etwa die Erinnerung an den Landstreicher, der nicht in die Besserungsanstalt wollte? 

 

Landstreicher schläft auf der Wiese

Ein Taugenichts treibt sich in der Stadt herum
always under pressure of the moral institutes 
But he won't go to a borstal
am Stadtrand warten die Wiesen, die grünen meadows

Mea doves    dove like        like a dream 
eine überflüssige Frage, 
erinnern kann ich sowieso nichts mehr.

 

Man sieht, die Übersetzer haben das, was im Original auf Tschechisch geschrieben ist, ins Deutsche übertragen. Die deutschen, englischen oder französischen Teile haben sie als solche stehen gelassen. Und nicht nur das: An manchen Stellen (wie hier) spielen sie frei mit Blatnýs Methode. Im Original hat der Autor das deutsche Wort "Wiesen" verwandt und kurz darauf wie bei einem Kettenspiel im tschechischen Text "wie sen" geschrieben - was in etwa "wie im Traum" bedeuten könnte. Der Landstreicher, der von der Anstalt nichts wissen will, träumt von den Wiesen der Freiheit. Die Übersetzer haben, ganz im Sinne des Erfinders, ihrerseits ein Kettenspiel mit dem Wort "meadow" erfunden, wo aus der Wiese heraus eine Taube zum Vorschein kommt, die in die Lüfte entschwindet und Kassiber transportiert.

 

Ich schreibe nur in einer Sprache 
trotzdem mag ich fremdsprachige Einschübe 
bras dessus, bras dessous, 
there is a remote chance that I will win the prix nobel

oder

I have the liver dinner in my tummy
my sex is manifest
im Nachbarzimmer gekrochen aus der Mammi
gare de l'est.

 

Der Dichter holt Vergangenes zurück und collagiert es mit der Gegenwart in der Anstalt: "Es ist früh und ich warte nur noch auf die Nachtpille", heißt es einmal und ein andermal: "Gott gib kurze Tage dass ich nicht leide/ dann die Versuchung mir längere zu wünschen / jeden Morgen erwarten mich Schaumrasur und Nasswusch / Frühfrass frisst Steuermaß nur mäßig". Oder auch: "Die Onaniefreuden locken mich heute nicht / das Geschäft lief damals woanders", oder "Eros-Laden. Muschis zählen: / Wir werden Adolf Hitler wählen." Mallarmé, Sokrates und ein Mithäftling namens Fred spuken durch die Verse - und die Rebellion dagegen, für tot erklärt zu werden: "Ich bin nicht tot, bin kein Geist / bin Abenteurer auf Nebengleis". 

Warum lesen wir das heute? Blatnýs Kosmos mag vergangen sein, Hitler, Stalin, Masaryk, Göbbels oder Kroupa sind Geschichte. Doch die Gedichte verströmen Zukunft. Wie da einer den Geist Europas verteidigt und zusammenhält und wie da einer sich und seine "Droge Kunst" durch die Zeiten erweitert und erneuert hat, statt sich im Irrenhaus auf seine große vergangene Zeit zu versteifen, das ist beides: eine zutiefst menschliche und zutiefst poetische Position, die uns Heutige angeht.

 

 

 

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Ivan Blatný, Hilfsschule Bixley, aus dem Tschechischen von Jan Faktor und Annette Simon, Edition Korrespondenzen, Wien 2018, 213 Seiten, 22 Euro. 

Zum Weiterlesen:
Ivan Blatný, The Drug of Art. Selected Poems, herausgegeben von Veronika Tuckerová, Ugly Duckling Press, Eastern European Poets Series #15, Brooklyn 2007.

Uljana Wolf, meine schönste lengevitch, Gedichte, Berlin, Kookbooks, 2013.