Marie Luise Knott

Wenn Meere brechen und Kometen glühen


Zur Tagtigall im Perlentaucher

 

12.07.2018. Klopstocks Idee, dass die Metrik immer Mitausdruck ist, sie prägte auch die Sprachkunst des englischen Dichters W.H. Auden. In seinem Gedichtzyklus "Thanksgiving, for a Habitat", neu übersetzt von Uljana Wolf, sind acht der zwölf Gedichte - in immer neuer lyrischer Form - einem Zimmer in seinem Haus gewidmet.

Gedichte haben ihren je eigenen Anlass; manchmal ist er stärker, manchmal schwächer in den Versen ersichtlich. Das Versprechen aber, dass die Sprache ihr Eigenreich schafft, findet sich in allen Versen des englischen Dichters W. H. Auden realisiert. 1907 in England geboren, reiste er viel, lebte (Ende der 1920er Jahre) auch eine Weile in Berlin, kämpfte 1937 für kurze Zeit im Spanischen Bürgerkrieg, dann trieb es ihn nach New York. Er war homosexuell, heiratete aus fluchthelferischen Gründen Erika Mann, verbrachte viele Nachkriegssommer auf Ischia in Italien und soll angeblich mehreren Frauen Heiratsanträge gemacht haben. Begraben liegt er in der Ortschaft Kirchstetten in Österreich, unweit von Wien, wo er von 1958 bis zu seinem Tode 1971 vor allem die Sommer verbrachte. Auden ist nicht nur ein poeta ductus, sondern auch das, was man einen Dichter-Dichter nennt, einen der immer für Sprachabenteuer zu haben war, zahllose junge Dichter entdeckte und förderte und gleichzeitig die Wiederbelebung vergessener Dichter ("die guten Toten") und vergessener Sprachkunstformen beförderte. Er dekonstruierte das Idiomatische und ließ spielerisch verschiedene Formen wie Haikus, Blankverse, Oden, den Catull'schen Hendekasyllabus ebenso wie alte walisische Bardendichtung eine ganz heutige Kraft entfalten. 

Nun hat die Literaturedition Niederösterreich einen Band mit dem Titel "Thanksgiving für ein Habitat" herausgebracht und darin Berichte, Briefe und Bilder rund um Audens Aufenthalt in Niederösterreich versammelt. Ein Heimatkult-Buch, so der Verdacht, und so einiges in dem Band bestätigt ihn. Doch der Herausgeber Helmut Neundlinger hat ein wahres Juwel hineingesteckt: den titelgebenden Gedichtzyklus "Thanksgiving, for a Habitat". Er entstand zwischen 1958 und 1963, erschien erstmals 1964 in "About the House" und ist, wie der Titel schon sagt, eine Dankesgabe für die Wohnstatt, die Auden in Kirchstetten gefunden hat. 

 

Und was ich nicht zu hoffen, worum ich nicht
zu kämpfen wagte, das gehört jetzt mir, Mitte fünfzig:
Haus und Hof, wo ich nie denen trauen muss
die mir nicht vertraut sind: ..
...

 

Das "Habitat" aus dem Titel steht bei Auden wie schon in der biologischen Forschung von Linné (der im Gedicht namentlich genannt wird) für den charakteristischen Aufenthaltsort eines spezifischen Lebewesens. In unserem Fall ist das Lebewesen der Dichter und das Haus nur scheinbar sein reales Wohnhaus. Die zwölf Gedichte folgen je verschiedenen lyrischen Formen, mitunter wechselt der Ton mitten im Gedicht oder im P.S.. Acht der (bis zu vier Seiten langen) Teilgedichte widmen sich je einem der Zimmer: Toilette, Bad, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche, Arbeitszimmer, Speicher und Keller. Je länger man liest, desto deutlicher zeigt sich: Auden verwandelt den Zyklus in ein Habitat, in dem sich ganz intime, dem Ort spezifische Beobachtungen mit kulturgeschichtlichen Betrachtungen und Reflexionen über die condition humaine mischen; die Verse werden zur Wohnstätte für Bilder, Erinnerungen und Assoziationen; zum Ort der Begegnung mit Gästen und Geistern. Ein riesiger Kosmos, ein kleines Erntedank. 

Jedes Gedicht ist zudem einem nahen Freund oder einer Freundin gewidmet, das Arbeitszimmer etwa dem toten Freund und Nachbarsjungen aus Kindheitstagen Louis MacNeice.

 

                                             Wie gern hätte ich dir alles gezeigt Louis,
    als du noch im Leben warst,
und das Haus, den Garten: Liebhaber von Damen und Donegal,
     du nähmest von deiner Warte
Dinge wahr, die ich übersah, nährtest deinen Gelehrtensinn
      an Fakten, die ich auftischte
( z.B. vier Meilen östlich, an einer hölzernen Palisade,
hielt das karolingische Bayern inne, 
dahinter: unbegreifliche Nomaden). ...

 

Auden - und auch Uljana Wolf, die so leicht und so komplex im Deutschen neugeschaffen hat, wie es bei Auden so dasteht - pflegen beide einen leisen Humor, etwa wenn der Dachboden, Anne Weiss gewidmet, als der Ort der Frauenwelt beschrieben wird, weil nur Frauen Dinge bewahren, die nichts nutzen; oder wenn die Toilette, dem Geliebten Christopher Isherwood gewidmet, zum Ort wird, an dem das Schwinden der Leidenschaft im Alter beklagt, und das Zurücklassen des gestrigen Tages begrüßt wird. Oder wenn das Badezimmer, weil es nur von innen zu verriegeln ist, als kindlicher Rückzugsort von der Familie und so als Garant der Menschenrechte erscheint. Ob Luther auf dem Plumpsklo tatsächlich seine Offenbarung hatte, wie man bei Auden liest? 

Klopstocks Idee, dass die Metrik immer Mitausdruck ist, sie prägte auch die virtuose Sprachkunst des Dichters. Hier, in der "Danksage", spielt er mit diversen Formen und schafft so einen ganzen Chor der Klänge, die sein Habitat erfüllen. Zu den formal geschlossenen Gedichten gehört das über die Küche, das es in sich hat. Es besteht aus sechs Strophen mit je 16 Versen. Gewidmet ist es Margaret Gardiner, die Auden Ende der 1920er Jahre in Berlin kennen lernte, und von der man weiß, dass sie eine besondere Freundschaftsgabe besaß. "Erst das Fressen, dann die Moral" lautet der Titel frei nach Brechts "Dreigroschenoper", wohl ein Anklang an die gemeinsame Berliner Zeit. Gleich eingangs schlägt Auden einen ironisch-hohen Ton an, und sofort ist klar: Wenn wir die Moral (bei Auden: ethics) weiter derart von den Notwendigkeiten wie den sinnlichen Genüssen des lebendigen Lebens abspalten, werden wir das Nachsehen haben: 

 

    Sollte Platons Schatten
    mich besuchen, um zu fragen 
 wie es mit Anthropos läuft, ich sagte vielleicht: "Nun,
    wir lesen alle still, unser Gebrauch
der heiligen Ziffern würde dich erschüttern, und ein Dichter
    könnte klagen - wo ist Telford,, 
dessen Brücken und Kanäle Shropshire schmücken, 
    wo Muir, der auf einer Douglasfichte
einen Sturm ausritt und Erdbeben für edel hielt,
    wo Mr Vynyian Board, 
dank dessen lebenslanger Plackerei gejagte Wale
    heute schneller sterben? - ohne als Idiot 
zu gelten, obwohl keiner von ihnen Waffen trug 
    oder Skandale auslöste", dann mit einem Lachen 
Richtung Athen, "Schau, das ist der Ort 
    an dem wir unser Essen kochen."

 

Platons Schatten steht hier in Audens Küche, fragt nach dem Zustand des Menschen heute und bekommt fast feministisch zur Antwort, dass es selbst hier, in Kirchstetten, vorbei sei mit dem männlichen heroischen Heldentatengestus und der ganzen angeblichen Überlegenheit des Ethischen; dass es sein könne, dass der (seinerseits bereits ironische) Titel von Brecht (Erst kommt das Essen!) viel zu lange falsch gelesen worden sei. Die Küche ist, wie sich beim Weiterlesen herausstellt, nicht österreichischer Bauart, sondern aus amerikanischem "Do it yourself" gemacht, also so beschaffen, dass alle Menschen darin zu Koch-Königen und alle Köchinnen zu Staatsoberhäuptern avancieren können. Doch nicht von ungefähr wird gleich zweimal im Gedicht darauf verwiesen, dass die Auden'sche Küche nach Athen schaut, an den Geburtsort der Polis, und dass es überall Küchen gibt, die über die Welt verstreut sind, und an denen sich, wie es heißt:

 

... zwei wie wir begegnen:
Wir erkennen einen Bürger ohne 
Papiere. Auch ihre Feinde können das. 
Es wird sich zeigen wer stärker ist, 

 

Das klingt hochaktuell, und zugleich kommt einem Brechts "Lesebuch für Städtebewohner" in den Sinn. Die imaginierte Weltrepublik, sie könnte fallen, liest man im Gedicht, doch die Küchenmenschen halten an ihr fest: 

 

... wir schworen trotzdem, 
sie zu schützen - und alles worum wir bitten, 
kommt die Nacht wenn Meere brechen und Kometen glühn,,
ist ein gutes Abendessen, auf dass wir 
so gestärkt marschieren, linken Fuß zuerst, 
zu halten ihr Thermopylae.

 

So endet der 8. Teil von Audens "Danksage". Die mit anderen geteilte Wohnstätte in der Welt braucht Genuss ("gutes Abendessen"), um in revolutionärem Geiste ("linker Fuß voraus") erneut, wie einst die 25 Spartaner zu siegen - vielleicht um den Papierlosen Schutz zu gewähren? 

 

 

 

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Zum Weiterlesen:

Thanksgiving für ein Habitat. W.H.Auden in Kirchstetten, Übersetzung des Gedicht-Zyklus: Uljana Wolf, Fotografien von Carmen Osowski, Literaturediton Niederösterreich, 2018

Randall Jarrell on W.H. Auden, Columbia University Press 2005.