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Marie Luise Knott

Verlor’nes Glück, Und dennoch du, du hast mich nie geliebt, zu Gottfried Benns "schöner Abend", in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.08.2012

 

Schöner Abend 
Gottfried Benn


Ich ging den kleinen Weg, den oft begangenen, 
und diesen Abend war er seltsam klar, 
man sah ihn schon als einen herbstbefangenen, 
obschon es mitten noch im Sommer war.

Die Himmelsblüte hatte weiße Dolden, 
die Wolken blätterten das Blau herab, 
auch arme Leute wurden golden, 
was ihrem Antlitz Glück und Lächeln gab.

So auch in mir, — den immer graute 
früh her, verschlimmert Jahr um Jahr  
entstand ein Sein, das etwas blaute —
und eine Stunde ohne Trauer war.

 


Verlor’nes Glück
Und dennoch du, du hast mich nie geliebt

Ein jeder kennt sie, solche Abende, an denen der Herbst in der Luft liegt. Wir sind zu verschiedenen Zeiten verschieden empfänglich dafür, daß mitten im Sommer in der blauen Stunde der Dämmerung mehr hereinbricht als das Ende des Tages. („Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.“) Eine Erinnerung an die Fülle des Lebens schwingt mit. Der Dichter Gottfried Benn, geboren 1886, der Schöner Abend im April 1954 verfasste, hatte vor der Verwendung von Farbattributen in der Lyrik gewarnt und sie als “reine Wortklischees“ bezeichnet, „die besser beim Optiker oder Augenarzt ihr Unterkommen“ fänden. Umso mehr verwundert, daß es im Mittelteil des Gedichtes gerade die Farben sind, die Himmel und Erde verschränken:  Die weißen Dolden der „Himmelsblüte“ spiegeln die Wolken, die ihrerseits von hochoben – wie Bäume - das Blaue vom Himmel blättern. In dieser Strophe, wo sich Dolden und golden reimt und das himmlische Herbstlicht das Antlitz der Armen verschönt, stellt sich tatsächlich der am Kitsch sich reibende Sog ein, den Peter Rühmkorf einst zu dem ironischen Satz animierte: „Die schönsten Verse des Menschen - na, finden Sie einen Reim! - sind die Gottfried Bennschen.“
Als die „Morgue“-Gedichte 1919 erschienen, waren sie ein Schock: Benn erschüttere „Begriffe von innen her, daß Sprache wankt und Bürger platt auf Bauch und Schnauze liegt", formulierte der Dramatiker Carl Sternheim. Über den Goldzahn einer toten Dirne etwa heißt es in dem frühen Gedicht „Kreislauf“: „Den schlug der Leichendiener sich heraus, versetzte ihn und ging für tanzen.“ Eine solche dem Volk aufs Maul schauende Wendung mußte einem damals erst einmal einfallen! Der 12 Jahre jüngere Bertolt Brecht dürfte sich daran gelabt haben.
Trotz seiner zeitweiligen NS-Unterstützung wurde Benn in der jungen Bundesrepublik zum gefeierten Dichter  -- vielleicht, weil seine vorgetragene Enthaltsamkeit die Stimmung traf. 1951 hatte er reimlos die Zeit in Substantive gemeißelt: „Fragmente, /  Seelenauswürfe,  / Blutgerinnsel des zwanzigsten Jahrhunderts“,  doch gleich dahinter erklangen seine Sehnsuchtsimpulse: „-- aber Abende gab es, die gingen in den Farben /des Allvaters, lockeren, weitwallenden,/ unumstößlich in ihrem Schweigen/ geströmten Blaus“.
In  Schöner Abend strömt das Blau nicht, es blättert. Inmitten der empfundenen Weltverhangenheit des Jahrhunderts („den immer graute“) erscheint dem lyrischen ich ein „Sein, das etwas blaute“, also die Erinnerung an eine Stunde des Lichts. Blau ist die einzige Farbe, die Benn in der Dichtung gelten ließ, ja: mit der er eine „Befreundung“ empfand; sie sei die Farbe der „Zusammenhangsdurchstoßung“ und der „Wirklichkeitszertrümmerung“; dort, in der Transzendenz also, entsteht der Moment des Glücks, der im Gedicht nicht näher benannt wird. Natur und Leben schenken solch lichte Augenblicke.
So gereimt das Gedicht daherkommt, in der dritten Strophe stockt der Fluß; dort ist die Syntax von Zeilensprüngen und Gedankenstrichen fast zur Undurchdringlichkeit fragmentiert. Lauscht man dem Ende nach, so vernimmt man eine rhythmische und klangliche Nähe zu einer Zeile aus Benns Abschieds-Gedicht Blaue Stunde, das circa drei Jahre vor Schöner Abend entstand:  „und wenn sie ging, weiß keiner, ob sie war“. Und plötzlich hat man Brechts berühmtes Lied Erinnerungen an Marie A. im Ohr: „und als ich aufsah, war sie nicht mehr da.“  Den Text dichtete Brecht 1920 auf die Melodie des Schlagers „Verlor’nes Glück“, der damals in aller Munde war und den auch Benn gekannt haben muß: „Und doch warst du mein Glück, mein ganzes Leben / Ich hätt' geküsst die Spur von deinem Tritt, / Hätt' gerne alles für dich hingegeben / Und dennoch du, du hast mich nie geliebt.“ So gelesen ist Benns Schöner Abend – auch - ein Liebesgedicht.

Gottfried Benn und Bertolt Brecht hatten einiges gemeinsam, vor allem: Sie liebten den Gesang. Doch bei Brecht bleibt die Wolke „ungeheuer oben“. Seine reine Freude am Diesseits war nicht von Benns Welt. 


Marie Luise Knott


Aus: Gottfried Benn, Gedichte. In der Fassung der Erstdrucke, Mit einer Einführung hrsg. von Bruno Hillebrand, Frankfurt a. M. 1996.