Marie Luise Knott

Und ein volles Glas auf dem Schrank beobachtet uns

Link zur Tagtigall im Perlentaucher

 

Im Nürnberger Poetenladen gibt es die Rubrik "Stele", erdacht hat sie als kleine Nachruf-Kolumne der Dichter Hans Thill. Dichter gedenken darin ihrer verstorbenen Kollegen. Heute erinnert die Tagtigall an den ungarischen Dichter Szilárd Borbély, der im letzten Monat, am 19. Februar 2014, aus dem Leben schied.

"Was wäre, wenn überhaupt nichts mehr wäre? Wenn ich keines all der schwierigen Dinge, die ich gerade tue, fertig stellen müsste?" - Diese Frage hat der ungarische Autor, Essayist und Dichter, Szilárd Borbély, 2003 in dem Gedichtband "Hamlet Berlin" aufgeworfen, der bislang nicht auf Deutsch vorliegt, von dem aber kürzlich in The American Reader englischsprachige Auszüge erschienen sind. 

In Briefform wird darin u.a. verschwiegen und doch beredt Krieg und Liebe - das Liebeswerben - zwischen seinem Ungarn und seinem Deutschland beschworen:

If I come to Berlin at Easter, would you have an hour to spare,
so that I could visit you? It could be at any time, for I won't
have any other business in Berlin, save our meeting. I hardly
have a proper suit in which to appear before you. But that is truly

incidental. One easily slides into temptation, however. I am only
travelling to Berlin to show myself to you, the one misled
by my letters, so you can see who I really am. I could not accomplish this in writing,
because I was in defiance of myself: in the light of reality

nothing remains hidden. Presence is irrefutable. If only I will have had
enough sleep when I meet you. If only my knees won't shake. What
a farcical and vague monologue this is. If I travel,
I will be staying in the Askanischer Hof hotel on Königgrätzstrasse.

Szilárd Borbély, Jahrgang 1964, wird die deutschsprachige Veröffentlichung der Berlingedichte nicht mehr erleben. Am 19. Februar 2014 hat er sich in Debrecen das Leben genommen. Er galt und gilt zu Recht als einer der großen jüngeren ungarischen Stimmen, bekannt wurde er nicht zuletzt wegen seiner stillen, unerschrockenen Auseinandersetzung mit den Fantasmen der Vergangenheit und der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Preise, war Dozent für Alte Ungarische Literatur, veröffentlichte mehrere Gedichtbände, übersetzte u.a. Monika Rinck und Robert Gernhard aus dem Deutschen und arbeitete zuletzt, so hört man, an einer Übersetzung des Buches von Klaus Michael Bogdal "Europa erfindet die Zigeuner". Borbélys Großvater wurde als Jude in Auschwitz ermordet. Die Themen Verlust, Trauma und Erinnerung durchziehen das Werk des Dichters, allen voran die Frage, wohin Angst die Menschen treibt. Wie überleben wir als Menschen, was uns widerfährt? Was macht das mit uns? Und was kann die Sprache?

Weihnachten 2000 wurden seine Eltern in ihrer Wohnung überfallen. Einbrecher ermordeten seine Mutter, sein Vater starb sechs Jahre später nach Aufenthalten in der Psychiatrie an den Folgen dieses brutalen Verbrechens. Es sei eine "Schwäche", hat Borbély einmal gesagt, dass man nicht vergessen kann. 

Inmitten der schweren Zeiten ist Borbélys lyrische Stimme kräftig, seine in Verse gebrochene Prosa eindringlich. Der Budapester Hochroth-Verlag veröffentlicht demnächst sein Langgedicht "Proteus in der Psychiatrie" (Ü: Orsolya Kalász, Mathias Kniep), das von den Besuchen bei seinem Vater handelt - Jahre nach dem Überfall. Darin heißt es gespenstisch:

Ich nicke nur, frage ihn, was ich immer frage, auf dieselbe Art, 
wie ich es immer tue: 'Wie geht es Ihnen? Kann ich irgendwie
behilflich sein? Was soll ich mitbringen? Was soll ich tun?' - Nach
den üblichen Fragen höre ich mir die üblichen Antworten an,
die der alte Mann mit dem erstarrten Gesicht vor sich hin 
murmelt. Nur dieses Murmeln ist lebendig, wie das des Wassers.
Und ein volles Glas auf dem Schrank beobachtet uns.

Um inmitten der Schrecken der Zeit die menschliche Fähigkeit zur Sprache zu verteidigen, sucht Borbely nach neuen Ausdrucksformen. Er wäscht die Sprache aus, ja, er entfärbt sie, in dem Versuch, Terror, Schmerz, Wahn und Angst, die uns die Sprache zu verschlagen drohen, dennoch festzuhalten.

Ruhm, hat Hannah Arendt einmal gesagt, sei ein gesellschaftliches Phänomen und die Gesellschaft habe die Tendenz, Menschen, um sie zu rühmen, nach Kategorien und Typen zu scheiden; das Einzigartige, das Nichtklassifizierbare, sei dem Nachruhm vorbehalten. Bei uns, in Deutschland, ist Borbélys Werk bisher nur spärlich zugänglich. Hier ist er auf den Nachruhm angewiesen. Bislang publizierte der Kortina Verlag in der Reihe "Dichterpaare" Verse von ihm (in der Übersetzung von István Orbán) zusammen mit Gedichten von Michael Donhauser. Ferner erschienen in der Zeitschrift Akzente (2/ 2009, Ü: Heike Fleming) einige "Chassidische Sequenzen" aus dem Gedichtband "Leichenpomp", der 2004 in Ungarn erschien. 

XVII.
An einem Tag wollte der Sabbat nicht 
kommen. Dabei warteten sie wie immer
darauf im Dorf. Sie hatten den Zinn-
leuchter poliert und ihn mit Kerzen

bestückt unter das Fenster gestellt. Sonst
hatte das Licht der untergehenden Sonne
die Dochte zu jedem Schabbes entzündet. 
Doch jetzt geschah nichts. Gespannt

verfolgten sie, wie sich das Reich des Lichts 
zurückzog. Nur unter den Queckenblättern, 
den Holundersträuchern am Straßenrand
verbarg sich etwas. Der Synagogendiener

ging sogar zweimal ans Ende des Dorfes,
um zum Horizont zu blicken, den die 
Pappelallee verdeckte. Doch es wollte
nicht Abend werden. Umsonst war 

das Schalet fertig. Umsonst blitzten
die Gläser auf dem Tisch, wie gebrochenes 
Blut der gewürzte Wein in der Karaffe. 
Nur der Tor kannte das Warum. 

2013 erschien in Ungarn Borbélys einziger Roman "Die Mittellosen". Er hat stark autobiografische Züge, spielt Ende der 1960er Jahre und ist das beklemmende Porträt einer Familie auf dem Dorf im Nordosten Ungarns - Borbélys Rückkehr in die Armut seiner Kindheit, in karger Prosa grandios erzählt. "Ich schreibe über Armut", sagte er einmal im Gespräch mit dem Magazine The Missing Slate, "weil ich eine stetige Zerrüttung beobachte, wie armselig arme Leute behandelt werden. Roma wie Ungarn. Wenn ich heute aufwachsen würde, würde es mir wohl kaum gelingen, aus der Armut rauszukommen. Diese Tatsache zernagt mir das Herz und bringt mich auf." 

Der Roman erscheint, so die Auskunft des Suhrkamp Verlages, in diesem Herbst unter dem Titel  "Die Mittellosen. Ist der Messias schon fort?" (Ü: Heike Flemming/ Laszlo Kornitzer). Ausgaben in Englisch,  Spanisch, Italienisch und Französisch  sind in Vorbereitung.