Marie Luise Knott

Der Traum vom singenden Strand


Zur Tagtigall im Perlentaucher

 

20.06.2019. In diesem Jahr gewannen drei litauische Künstlerinnen, darunter die Dichterin Vaiva Grainytė, den Goldenen Löwen für den besten Pavillon auf der Biennale in Venedig. Sie zeigen eine Strandperformance – reine Verführung und in der Sache hochaktuell: Das Anthropozän holt uns überall ein, auch dort, wo wir – in den "kostbarsten Tagen des Jahres" – nur Sommerstrand wollen. Klimawandel, hemmungslose Kapitalströme und Migration prägen längst unser ganzes Dasein. Oder nicht oder doch?

Man braucht eine Band, sagte mir einmal eine Künstlerfreundin. Und ja, sie hat recht. Die Idee vom einsamen Kunstschaffen ist die eine Sache und irgendwie auch wahr, aber Einsam + Gemeinsam ist besser. Drei Frauen: Vaiva Grainytė, Rugilė Barzdžiukaitė und Lina Lapelytė haben dieses Jahr in Venedig den Löwen für den besten Pavillon bekommen, eine Dichterin, eine Theatermacherin und eine Komponistin. Alle drei stammen aus Litauen und sie bezeichnen sich selbst als dreiköpfigen Drachen. 

Mit starrem Blick auf die kleinen Abgründe des Lebens in diesen Zeiten der Globalisierung haben sie miteinander bislang zwei Opern ersonnen. Die erste, "Have a good day", entstand 2013 und bestand aus zehn Monologen von Kassiererinnen aus einer Supermarktkette. Die zweite, "Sun & Sea", wurde 2017 in Litauen uraufgeführt und versammelt Gedankenfetzen von Strandbesuchern. Nun ist sie als "Endlosschleife" in Venedig zu hören und zu sehen. 

Beide Male zeichnet die Dichterin Vaiva Grainytė für das Libretto verantwortlich. 2013 erfand sie in einsamer Gemeinsamkeit mit ihren Kolleginnen für "Have a good day" das Wechselspiel aus Chor und Rezitativ der mit weißer Bluse und dunkelblauem Rock adrett nebeneinander sitzenden Frauen, die im Chor gebetsmühlenartig die Stumpfheit ihrer Arbeit und die Vorherrschaft des Floskellebens besangen - "Hallo, wie geht es Ihnen? Danke schön. Einen schönen Tag noch!" –, verbunden mit dem dazugehörigen Lächeln und der stakkatoartigen, immer schneller getakteten Aufzählung der an den Kassen vorbeirauschenden Waren: Avokado, Zucker, Wurst, Seife und Kvas. Unterbrochen wurden diese Chorstücke des repetitiven Lebens durch Solo-Selbstgesprächsfetzen – Gedanken und Erinnerungen aus dem eigenen Leben: Emigration, Arbeitslosigkeit, die Liebe oder die permanente Reproduktion partriarchaler Verhältnisse. ("Du hast schon wieder die falsche Taste gedrückt."/ "Gestern habe ich einen großen Topf voll Suppe gekocht, das wird reichen." // "Heute morgen habe ich die Klöße in die falsche Gefriertruhe geräumt.". // "Ich schaue morgens beim Aufstehen immer gleich in den Spiegel und lächele, das hilft mir zu glauben, dass der Tag schön wird.") 

 

Das Stakkato des Arbeitstaktes wechselte mit sanften Melodien oder hysterischen Rezitativen - man hört von dem Sohn, der emigrierten musste, von den Nöten der alleinerziehenden Mutter, die ihr Kind immer bei den Großeltern lässt, von der ausgebildeten Künstlerin, die eine Schaffenskrise hat. Dazwischen wiederholt der Chor die ewige Wiederkehr des Gleichen: Wurst, Avokado, Seife, Kvas.

Konsum, formulierte es einst Baudrillard, ist keine Leidenschaft für die Substanz, sondern für den Code. Das mit dem Code haben die Gesellschaften offensichtlich zu ernst genommen. Das geht an ihre Substanz. Eine Welt ohne Einkehr, aus lauter Wiederkehr? 

Es folgte 2017 mit dem Opernstück "Sun & Sea" der Traum vom singenden Strand – zunächst ein großes visuelles und auditives Vergnügen. In Venedig, am Rande des Arsenale, betritt man einen Raum und schaut von oben hinab auf einen künstlich angelegten Strand. Ein Mosaik aus Handtüchern und Liegestühlen. Menschen verschiedener Hautfarben, Altersgruppen, Leibesfüllen und Herkunftsländer dösen, cremen sich gegenseitig ein, schreiben Tagebuch, lesen eine Zeitschrift oder trinken ein Wasser. Andere proben Taekwondo. Kinder bauen Burgen, spielen Ball oder bewerfen sich mit Sand. Von irgendwo dort unten klingen Rufe und Möwengeschrei herauf. Dazwischen vernimmt man Stimmen. Die Strandbesucher haben ihre Körper, die gewöhnlich unter der Alltagskleidung verborgen sind, entblößt. Sie wollen den Alltag ablegen. Ferienfeeling eben. 

Wir, die Betrachter, schauen wie vom Balkon auf das Treiben herunter – auf die Menschen, die sich herumfläzen, auf ihren Iphones daddeln oder sich sonst die Zeit vertreiben. Wie wir es auch so gerne tun.

 

Konterkariert wird das Urlaubsidyll durch die Sologesänge – Gedankenfetzen und Erinnerungen, die - man weiß erst nicht, woher – zu uns heraufdringen. Sie erzählen etwas anderes. Statt von lustvoller Entspannung handeln sie von den Dystopien unseres Daseins: Vulkanausbrüche, gecancelte Flüge, warme Weihnachten, veralgte Strände und: das Korallensterben. Selbst die "kostbarsten Tage des Jahres" werden uns verhagelt. Ein Seniorenpaar macht sich Sorgen wegen der Hautkrebsgefahr. Eine Frau beschwert sich mit schriller Stimme über Hundekot und Plastikmüll. Einer betrauert das Schwinden der Bienen.

Der Traum vom Strand wird subversiv gewendet. Lauert hinter der ersehnten Faulheit Endzeitstimmung? Tanzt, wer unter der Sonne die Zeit totschlägt, tatsächlich nur am Abgrund? Eigentlich wollen wir es längst nicht mehr hören, und doch hören wir bereitwillig zu, da die luxuriöse Szenerie ("Sun & Sea" und ein meditatives Basso Continuo der Musik) dafür sorgt, dass auch unsere eigenen Schutzschichten sich lösen. Chorpartien umhüllen die Sologesänge, die plötzlich auftauchen und alsbald wieder verschwinden. Gedankensplitter, fast wie beim wirklichen Stranddösen. Die Chorstücke, die von allen gemeinsam gesungen werden, sind monoton und repetitiv – LIKE LAVA, LIKE LAVA, LIKE LAVA – und wir, die Betrachter, stimmen innerlich ein. Später hören wir "EXHAUSTION, EXHAUSTION, EXHAUSTION .....", und wieder summen wir mit. Erst draußen, wenn wir die Strandszene verlassen haben, wird in uns einsickern, was wir tatsächlich sahen, hörten und taten. 

Aristoteles war der Überzeugung, dass Geschichten, die ein Ganzes bilden, also einen Anfang, eine dramatische Handlung und ein Ende haben, uns besser gefallen als solche ohne Handlungsbogen. Der Anfang einer Geschichte folge jeweils aus nichts, alles andere aber folge dann daraus. Irgendwie. Dieses Erzählen greift schon länger nicht mehr. Die Poesie mit ihren Rhythmen und Brüchen wusste der Krise des Erzählens Rat. So auch hier. "Once upon a time, the world was round and you could walk on it, around and around", beschrieb Gertrude Stein die Zeit, bevor die Menschheit sich der Erdkrümmung entgegenstemmte. Es gibt kein Zurück – auch nicht in der Erzählung. In "Sun & Sea" erheben sich die Soli aus dem Nichts und brechen nach wenigen Minuten wieder ab. Ohne dass ein Ende wäre. Nichts folgt aus nichts. Plastikmeere, Megacities und der Machbarkeitswahn inklusive der Allmachtsfantasie, dass demnächst mit den Möglichkeiten des 3D-Drucks eine unkaputtbare Ersatzwelt geschaffen werde. Das Leben geht – Jonny Technik kommt, könnte man sagen, weshalb Marion Poschmann vor einiger Zeit die "Polarnacht aus Zellophan" beschwor. Wohin nur mit dem Plastik? 

Auf dem Strand, vielleicht dem letzten Fleckchen imaginierter Sorglosigkeiten, baden die Sänger in der Sonne, die auf Arme wie Reiche bekanntlich gleichermaßen niederscheint. Alle kommen zu Wort und Klang. Ganz unscheinbar verteidigt die Kunst hier das Versprechen der Pluralität und der Freiheit, zu deren Unterstützung die Künstlerinnen die Kinder geladen haben. So sehr wir uns auch dem Strandleben hingeben, das Lied vom Leid, wir tragen es überall hin. Die Kinder aber, sie bewegen sich, als gäbe es kein außen. Sie spielen und spielen und erinnern auf ihre Weise an die Fortexistenz der Verzauberung in der Welt. 

In einem früheren Gedicht hat Vaiva Grainytė einmal erläutert, sie stehe nicht auf Flaggen, Proteste und Resolutionen, sie interessiere sich für die Details; sie greife sie heraus und schmücke sie mit Vogelschwanzfedern aus. Auch in "Sun & Sea", das um ökologische Fragen im Anthropozän kreist, gibt es kein Flaggen und keine Belehrungen – das Thema sei einfach zu groß, sagt die Autorin. Sie hält sich ans Einfache. Wortgetüme wie etwa Lutz Seilers "geiger zähler herz" kommen im Libretto nicht vor. Was finden die Dohlen im Sand?

Was finden die Dohlen im Sand?
Kleine Muscheln
verlorene Ohrringe
Anhänger
Zigarettenstummel
Kinderkacke
einen Zahnstummel
Korken dieses oder jenes Getränks (vorwiegend Sekt)
Schokolade
Apfelbutzen
den Rumpf eines Crocs
Bissen belegter Brote
Tröpfchen der Creme Q10
den Teil eines Badekostüms
Buchstaben aus Zeitschriften
Ruinen von Sandburgen -
und das ist derselbe Sand,
in dem die Dohlen ständig irgendetwas finden.
Wenn die Dohlen die gefundenen Dinge verschlucken,
bin ich ruhig:
Alle Dinge liegen sicher in schwarzen krächzenden Speichern.

 

Wäre Grainytės Gedicht hier zu Ende, würde man denken: ein Listengedicht, das – wie damals die "Inventur" von Günther Eich – allem, was der Fall ist, mehr Geltung gibt. Wie in den beiden Opern alle Stimmen, die der Fall sind, zu Sprache kommen dürfen. "Alle Dinge liegen sicher in schwarzen krächzenden Speichern" liest man. Ein demokratisches Nebeneinander: Muschel, Apfelbutze, Ohrring, Q10-Creme und Kinderkacke. Doch Vaiva Grainytė hat dem Gedicht hat noch ein PS sowie ein PPS hinzugefügt: 

 

PS: In Anbetracht dessen, dass die Vögel viel Zeit in der Höhe verbringen, könnte man deutlich vernehmbar hinzufügen: "…liegen sicher in schwarzen krächzenden Speichern näher bei Gott."

PPS: Und was ist, wenn ich Gott nicht als im Himmel seiend auffasse, sondern denke, er / sie sei überall? Müsste man in diesem Fall schließen: "… liegen in einem schwarzen Krächzen in Gott"?

Sogar wenn die Dohlen die im Sand gefundenen Dinge nicht schlucken, liegen sie dennoch sicher in Gott. 

 

Ob es Gott gibt oder nicht, alle Dinge und alle Stimmen sind Teil der Schöpfung und bedrohte Arten zugleich.

Welche ästhetischen Formen suchen Dichter heute? In Zeiten des Anthropozän versuchen einige Lyriker, fossile Formationen in der Sprache abzubilden. Andere setzen auf Sensiblisierung für natürliche Phänomene. Wieder andere beschwören "ölpockige Strände" oder "gengestörte Robben" (Ulrike Draesner). Wieder andere schlagen den Märchenton an ("hab sagen gehört, es gäb einen Ort / für alle verschwundenen Dinge, wie", liest man bei Ulrike Almut Sandig

In ihren Libretti sammelt Vaiva Grainytė Fetzen individueller Gedanken, ob consciousness oder unconsciousness. In einer radikal sich verändernden und verengenden Welt können die Menschen hier ihren Platz und ihre Fortexistenz behaupten. Ein wenig erinnert das Verfahren an die britische Dichterin Alice Oswald ("Dart") oder auch jüngst an die ukrainische Autorin Yevgenia Belorusets ("Glückliche Fälle"). Im Wechselspiel von Chor und Monolog, von einsam und gemeinsam; mittels absurder, ironischer Beiklänge entstehen so unter der Hand Ökotope aus individuellen und kollektiven Erinnerungen und Beobachtungen. In Venedig ist "Sun & Sea" eine Endlosschleife. So verstärkt sich das Gefühl  des schönen Stillstands.

 

 

 

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Hinweise:

Von Vaiva Grainytė ist soeben in Litauen ein Gedichtband erschienen. Ob sie auch hier demnächst mehr von sich reden macht? Der Litauische Pavillon in Venedig zeigt die Performance "Sun & Sea" jeden Samstag von 10-18 Uhr. 8 Stunden singen die Sänger! Venezianische Bürger (möglichst mit Gesangsfreude) können sich auf der Heimatseite des Pavillons melden und sich am Strandleben beteiligen. 

Als Opernstück wurde "Sun & Sea" 2018 in Dresden aufgeführt, mit der Übersetzung von Claudia Sinnig.

Das Gedicht "Was finden die Dohlen im Sand" wurde übersetzt von Cornelius Hell.

Die englische Dichterin Alice Oswald erhielt für ihren Band "Dart" , erschienen bei Faber & Faber, 2002 den T. S. Eliot Preis. (Hier eine Hörprobe)

Im Herbst 2019 erscheint von Yevgenia Belorusets "Glückliche Fälle" bei Matthes & Seitz, übersetzt von Claudia Dathe. 

Die Zitate im letzten Absatz dieses Beitrags stammen im Wesentlichen aus der Anthologie "all dies hier, Majestät, ist deins: Lyrik im Anthropozän", herausgegeben von Anja Bayer und Daniela Seel, erschienen im Verlag kookbooks, 2016.

Mehr zur jungen litauischen Lyrik findet sich auch in "Grand Tour. Eine Reise durch die Lyrik Europas", hrsg. von Fédérico Italiano und Jan Wagner in Zusammenarbeit mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Hanser Verlag 2019