Marie Luise Knott

Von Bülten und Palsen gedrupft

Zur Tagtigall im Perlentaucher


01.09.2017. In seinem neuen Band "Val di non" stellt Oswald Egger die Welt auf fremd. Die alltäglichsten wie die absonderlichsten Dinge werden gerüttelt und geschüttelt wie Kissen der Frau Holle im Val di Non - im Tal der Nones-Sprachen.
 

Begibt man sich hinein in den neuesten Band von Oswald Egger, "Val di non", der im Frühsommer 2017 bei Suhrkamp erschienen ist, so geht es einem wie der Glücksmarie im Märchen der Frau Holle - man fällt aus der Gefangenschaft der Gegenwart heraus in ein fremdes Reich, das Holle-Reich, in welchem die Dinge ihren Objektcharakter verlieren, sich enthierarchisieren; eine Welt, in der alles besehen und bedacht, gedreht und gewendet, beklopft und geschüttelt sein will. 

Egger, der seine Texte und Zeichnungen einmal als "aufblitzende Luken" beschrieb, setzt sein Ich fabelhaften Verhältnisse aus. - "wie also bekomme ich veränderte, und nicht nur neu zusammengesetzte Welten...", fragte der Autor laut in seiner ersten Berliner Rede zur Poesie. Und im Klappentext des neuen Buches, "Val di Non", verteidigt er die Eigenexistenz der so geschaffenen Eigenwelt: "Wie das wohl sein wird, gelebt zu haben, ohne gewesen zu sein?"  
 
Das Buch ist ein Buch der Wanderung, und wie jede Wanderung durch Rhythmen des Gehens, Stehens und Staunens gegliedert: Alle 16 Seiten jedoch rastet die Sprache und die Augen beginnen, in den Zeichnungen eigene Wege zu laufen. Davonzueilen: zu den Heiligen Sisinius, Martyrius und Alexander vielleicht, oder auch zu Formationen und Fantasien vom Alpenkrieg, der sich hier oben, in diesem Reich nahe dem Ewigen, ereignet hat. 

Das Prinzip des Schreibens ist denkbar naheliegend und zugleich hoch artifiziell: Egger bestaunt die Natur mitunter wie ein Romantiker; dabei stellt er sich die vorgefundene Welt fremd, denn er weiß: als Fremde vernehmen wir, was eingesessene Ohren zu vernehmen verlernt haben: "und es fiel Regen auf die Reben, wie lautgewordene Gedanken", heißt es einmal. Und ein andermal: "Regen, sein Rieseln über Nadeln sollte ich hören, er störte die Stille kaum, er vermehrte sie." In dem Maße, in dem das wandernde Ich sich in der Natur und in der Sprache aufs Vielschichtigste verguckt und versteigt, bahnen sich in den aufkommenden Glücksgefühlen des Staunens Erkenntnisse Raum, denn "Erkenntnis ist bekanntlich ein Glücksgefühl".

Tatsächlich: Finderglück durchwebt die Prosa-Fragmente in diesem Buch, ja es treibt die Fürwahrnehmungen wie eine innere Naturgewalt vor sich her: Findlinge aus dem Sprach- und Naturreich werden aufgestöbert, wieder und wieder. Neue Wortgebilde formen sich. Hier und da kommt einem das Barock in den Sinn. Hier ein "Schluckschatten", dort ein "Lößkindel" oder eine "Kehllinie", dazwischen "Novellenknäuel der Verkolkung", auch "Kalksteinknauern" finden sich, daneben Verben wie "istern", "göpeln" oder "fuszeln" . Sie alle entfalten sinnliche Suggestion und begeistern Eggers Wanderung durch das titelgebende "Val di non" - also von A nach O, oder auch von O nach A: Nonstal. Eine Gegend in Südtirol.

Im Grimm'schen Wörterbuch findet sich unter dem Wort "verschollen" der Hinweis, das Partizip stamme von dem Verb verschallen oder eigentlich verschellen und es meine zunächst "was aufgehört hat zu schallen". Jedes Ding, auch jedes abhanden gekommene, ist folglich so lange nicht verloren zu geben, solange es einen Widerhall, ein Echo in der Welt hat oder auf eines trifft. 

Eggers Prosa ist abgefasst, als könne der Autor mit seinen Erkundungen und Erfindungen aus den riesigen Reichen von Natur- und Spracherscheinungen den alltäglichsten wie den absonderlichsten Dingen in der Sprache Raum geben. Sie werden gerüttelt und geschüttelt wie Kissen der Frau Holle im Val di Non - im Tal der Nones-Sprachen. 

Im August 2017 war der Band "Val di Non" auf Platz 1 der ORF-Bestenliste. Und jüngst wurde bekannt, dass Egger dieses Jahr den Georg-Trakl-Preis erhält. Ein Sprachkünstler - so wird er allenthalben gepriesen. Und ein Wanderkünstler, möchte man hinzufügen. Er wandert durch die Landschaft der Sprache und erntet alle Schichten - historische, dialektale wie wissenschaftliche. Zudem ist Egger ein grandioser Tonsetzer, mal laut, mal leise. "Paß um Paß - ein Tal". Mit dieser Variation auf A beginnt ganz unspektakulär eines der Prosafragmente. Ein anderes Fragment beginnt: "Die Bergformen sind hier schiere". Nur zu gerne folgt man beim Lesen. Geht mit. Und wieder ein anderes Fragment beginnt: "Die Felder werden Ende Mai, Anfang Juni geschnitten, und nun liegen Ebene und Steppe dürr und rigide da, Distel und Dornen, in sich üppig't verknotete Spiralformen wuchern auf den Dauerfeldern und schon längst haben die Herden das ungastliche glatte Land hinter sich."

Ungastlich ist für Egger das glatte (übernutzte) Land, die glatte (übernutzte) Sprache. Gastlich wird es dort, wo die Erscheinungen und Formationen sich schichten, türmen austreiben und stürzen. Wo Archäologisches, Kosmisches und Organisches miteinander herumgeistern.
 
Das Wandern durchs "NON", zieht sich durch Eggers gesamtes Werk. Bereits in der Ankündigung von "Nichts, das ist" wurde Egger als Wörtersammler gepriesen. "Er hört dem Klang der Dinge nach, spürt ihre archäologischen Zusammenhänge auf, verwebt sie zu einem poetischen Universum, ...." Das war 2001. Später in "nihilum album" ("nichts Weißes, Zinkweiß") schuf er einen "Gesang von den Dingen der Natur" in der Form von 3650 Vierzeilern, 10 für jeden Tag eines Jahres. 

Vierzeiler ("diese volkstümlich tuenden Gebilde", sagt Egger) geistern durch viele seiner Werke. "Schnaderhüpferl", "Gstanzl", wie er sie nennt. "Ich dichte ihnen etwas an", sagt er einmal.

 
Ich schlief in Schling-
Liedern leerer Hütten,
zwischen Felber-
Laubwispeln.

Der Uhu
knappt 
Kuhblumen 
Am Ruchbach.

 

Von der Art der Zusammenstellung  -- die naturhaft sich ereignende lyrische Prosa, die Vierzeiler und die wissenschaftlich-forscherisch anmutenden Zeichnungen -- geht in "Val di Non" ein merkwürdiger Zauber aus. Es ist die Bewegung der Sprache und der Bilder selbst, die Eggers Poesie so mitreißend macht. Die Dinge und Beobachtungen schwappen lautlich ineinander über, verändern sich, reichern sich an oder versiegen wie ein vertrocknendes Rinnsal in einem abgebrochenen Satz. Es ist, als wolle die Sprache das gewaltige Natur-Theater einfangen, das den Menschen übersteigt, und man denkt an Walter Benjamins Diktum von "Bildern, die wir nie sahen, ehe wir uns ihrer erinnerten". In manchen Sätzen fällt Gegenwart mit Zukunft und Vergangenheit in eins. Die Welt, sie generiert sich in Tönen und Klängen, wieder und wieder: "Ich singe, also bin ich, singe ich." heißt es an einer Stelle. Das Ich, das nicht denkt, sondern singt, existiert überhaupt erst durch den Gesang - das Gedicht, in dem es gesungen wird. Und unweigerlich denkt man an Celans Diktum, es seien noch Lieder zu singen jenseits der Menschen. 

In den kunstvoll komplexen Zeichnungen von Zellen, Sporen, Zwillen und Kristallen, von Rhizomen und Anastomosen realisieren sich Spuren eines Forschungsdrangs. Immer wieder assoziieren sich die Elemente aus Natur-, Bild- und Sprachreich: 

 

Wie ein von Bülten und Palsen gedrupft buckeliges Ungelände mit verhökerten Horsten und Windsandsenken knuppiger Bröckel-, fast Firnkies- Drumlins, Inversions-Holmen und Trockenmoor-Motten, wie Gnomen graues Gestein, Felsflächen und Schrammen: Riß- und Geschiebeformen, alles Winkschliffe Flinstänze und Unlieder aus gestanzten, auf'splatzenden Wörtern.

 

Was sind "aufsplatzende Wörter"? Und was sind Flinstänze, die bereits früher bei Egger auftauchten? Worte, Bilder, Formen, Figuren gleiten ohnehin wie Samen von einem Text in einen anderen. Von einer Welt (Euer Lenz) in die nächste (Die ganze Zeit). Ob das Wort Flinstänze etwas mit dem Wort "flinsig" zu tun hat, das im Wörterbuch der Brüder Grimm im Zusammenhang mit dem Wort Herz ("flinsig Herz") "steinchenhart" bedeutet? Vor einigen Jahren las man in einer anderen Eggerwelt: "Auf diesem Fliens liegen zwischen den Grashorsten Ameisenringe aus rieseligem Lehm." Eine Ahnung wie eine Erinnerung steigt auf. So kommt Freiheit auf: "Ich dachte den Gedanken nur zur Hälfte, dann kippte das Bild ein, geriet auf Nebenbahnen und mußte neu anheben."  

Gertrude Stein beobachtete vor Jahrzehnten, dass Prosa und Poesie sich dadurch unterscheiden, dass Poesie im Unterschied zur Prosa aus Substantiven gemacht sei. Verben (Tatwörter, wie sie bei Egger heißen) und Adverben usw. setzten auf die Tatsache, dass etwas entsteht, handelt, vergeht. Poesie sei meist zeitarm, sie kreise um Substantive, gebrauche und missbrauche Benennungen und Bezeichnungen, sie vermeide oder hätschele diese, das sei trotz aller Handlung schon bei Chaucer, Homer oder in der Bibel so. Damals seien Mond, See und Liebe vielleicht erstmals besungen worden - doch noch heute sei alle Poesie letztlich "a state of knowing and feeling a name" - nachsinnen, was sich bezeichnen lässt. 

"...: zum Glück, dass es sie gibt", lautet der letzte Satz und man stimmt ein: Zum Glück, dass es sie gibt die Egger'sche Welt, die aus Zeichnungen, Worten und Klängen gemacht ist. 

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Oswald Egger, Val di non, Suhrkamp Verlag, 2017