Marie Luise Knott

Sticht und stanzt

Link zur Tagtigall im Perlentaucher

31.10.2016. Der Krieg hat nicht nur die ukrainische Gesellschaft umgeformt. Er hat auch das Schreiben der Dichter geprägt. Zu den jüngsten Gedichten, Songs und Reisenotizen des ukrainischen Autors Serhij Zhadan.
 

Seit der Krieg begonnen hat, schreiben alle über sein mögliches und ersehntes Ende und überlegen, was zu tun ist, wenn er vorbei ist, was zuerst angepackt werden muss und wovon man sich trennen sollte. Wie er zu Ende gehen könnte, was bleibt und was für immer verschwunden sein wird, darüber trauen wir uns nicht zu reden.

Serhij Zhadan, ein Autor und Liedersänger aus Luhansk im Osten der Ukraine, notiert diese Zeilen in seinem neuesten Buch "Warum ich nicht im Netz bin", das soeben auf Deutsch erschienen ist. Eine Zusammenstellung aus Poesie, Songtexten und Reisenotizen. Die Gedichte und Songs entstanden zwischen 2011 und 2015, das Luhansker Tagebuch auf zwei Reisen mit seiner Ska-Band "Sobaky v kosmosi" ("Hunde im All") 2014 und 2015. 

Keiner der Texte in diesem Buch handelt von einem Danach, dafür inszenieren sie umso kraftvoller die explosive Gemengelage im Donbass. Es darf nichts auf immer verschwunden sein. 

Anton, zweiunddreißig,
in seinem Profil steht: Lebt bei den Eltern.
Orthodox aber kein Kirchgänger,
Studienabschluss, Fremdsprache Englisch.

Anton ist Tätowierer. In Scharen sind die Einheimischen durch seine Hände gegangen.

Am besten spürst du einen Menschen, wenn du die Nadel ansetzt.
Die Nadel brennt, die Nadel heftet. Unter dem warmen
Metall wird die Leinwand der Frauenhaut 
gefügig und das helle Segeltuch der Männerhaut straff. Du dringst in eine fremde
Hülle, entziehst dem Körper samtene Bluttropfen, du stichst und stichst und stanzt 
Engelsflügel in die ergebene Außenhaut der Welt.

Das Gedicht, aus dem diese Zeilen stammen, heißt "Die Nadel". Zhadan, die derzeit kühnste Schriftstellerstimme aus der Ukraine, 1974 geboren, veröffentlichte mit 17 bereits seinen ersten Gedichtband. Regelmäßig tourt er mit seiner Band durch ganz Europa, vor allem aber durch das eigene Land. Er ist dabei gewesen und hat miterlebt, sagt er, wie sich die ukrainische Gesellschaft vor seinen Augen geformt und umgeformt hat. Bis heute. Dieser Prozess hat sein Schreiben geprägt, auch wenn von der großen Politik nirgends die Rede ist. Dafür bevölkert seine Kunst alles, was diese Menschenwelt in seiner Heimat zusammenhält.

Gleich in diesem ersten Gedicht des Bandes wird deutlich, in welchem Ausmaß der Tod sich ins alltägliche Leben eingenistet hat. Anton, der Tätowierer, wird, so erfährt man im Gedicht, aus unerklärlichen Gründen einfach so an einer Straßensperre erschossen. "Die persönlichen Dinge übergab man den Eltern. / Sein Profil hat niemand geändert." Ob jemand sich eines Tages an ihn erinnert, ob man ihm eine Heldengeschichte andichten oder er auf immer "verschwunden" sein wird und nur sein Internetauftritt überlebt, das steht aus. 

Zhadans Figuren sind wie die Menschen in den Werken Villons, Rimbauds oder Brechts der Wirklichkeit entsprungen und ihr verpflichtet. Schräge Typen. Kaplane und Atheisten, Heilige und Bösewichter, Irre, kleine Verbrecher und Unglücksraben und natürlich solche, die sich am Unglück anderer ergötzen. Es wird gesoffen, betrogen, geprügelt und gestorben. Dazwischen gibt es die vielen kleinen der tödlichen Wirklichkeit abgetrotzten Augenblicke des Glücks und der Liebe. 

Mit Wucht und Rasanz, dann wieder mit Zärtlichkeit und Fragilität führt uns Zhadan in Sprache und Rhythmus die Menschen in ihrer Verlassenheit vor Augen. Dabei zieht er alle Register. Denn nichts darf verloren gegeben werden. In dem Rest, der in keinem Slogan, keiner Gesellschaftsordnung aufgeht, siedelt sich das Menschliche an.

In seinen frühen Gedichtbänden schrieb Zhadan ruhigere, epischere Verse. Heute, in diesen bedrängenden Zeiten, brechen fremde Stimmen und Erzählungen und Rhythmen ein. Nicht nur die Adjektive sind verschwunden. Das Kriegsvokabular ströme in die Gespräche wie Passagiere in die morgendlichen Terminals, liest man im Vorwort. Denn Krieg, das heißt nicht nur, dass verbrannte Geschichte plötzlich einbricht. Krieg  verändert auch die Farben des Lebens. Und die Nähe des Todes und der Selbstaufgabe. Auch dagegen schreibt er an. 

Der Majdan hatte den Menschen, die über Jahrzehnte "in ihre Städte wie in Schuluniformen" hineingewachsen waren, Stimme gegeben. Nun ringt er damit, durch Poesie die Demokratie gegen die Diktatur der Politik am Leben zu halten. Wir dürfen uns nicht alleinlassen, sagt er. 

Die Welt wird nie mehr so sein wie früher
Wir werden nicht zulassen, dass sie so sein wird wie früher. 

Gogols grotesker Stil hallt hinein. Manche Zeilen erinnern an den Sound der Rockband "Fehlfarben", die in den 1980ern den Grauschleier ihrer Zeit zu durchstechen suchten. Andere Verse erinnern in ihrer Kurzschlüssigkeit an Brecht. Zhadan hat Brecht übersetzt, vor allem die Gedichte aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Auch Trakl und Benn und Celan und Miloscz habe er übertragen, um Kriegsgedichte aus anderen Zeiten und Kulturen in sein Land zu transportieren. Im Schreiben wie im Übersetzen will er die erstarrten Gesten auftauen, die Dämonen bändigen. Ob die Menschen ins Reden kommen, wenn man lange genug hinschaut? "Rede, Rede. Hauptsache es redet jemand/ es ist wichtig, dass unser beider Stimmen / Immer zu hören sind." liest man. "Ich spiele und tue alles, damit sie ihre Energie zurückbekommen", erzählt er im Gespräch mit mir während der Frankfurter Buchmesse. "Ich wollte nicht zu Hause sitzen, aus meinem Fenster eine Welt anschauen und Romane schreiben, Ich wollte immer mit meinen Lesern Kontakt haben. Das ist eine ganz andere Energie, die da zustande kommt." So ist Zhadan Performer und Musiker geworden, seine Verse sind eine klangliche und rhythmische Wucht, großartig komponiert, mal fließt der Text, mal ist er von Zäsuren, Pausen und Wiederholungen durchstochen. 

Suchst du Schuldige, das sind nicht wir,
ein Leben lang bauten wir Häuser hier.

oder

Erzähl uns, warum unsere Stadt in Flammen steht
Sag uns, dass es nicht gegen die Menschen geht.
Sag uns dass die Täter ihrer Strafe nicht entgehen,
Sag uns was anderes als wir in den Nachrichten sehen.

Diese Zeilen stammen aus dem Zyklus, "Marienleben". Der Titel lehnt sich an Rilkes Zyklus "Marienleben", und im Ukrainischen hat Zhadan auch ein Rilke-Gedicht aus dem Zyklus vorangestellt. Doch in Zhadans Marienleben gibt es keine erbaulichen Engelerscheinungen, keine Geburt einer Gottesmutter, dafür die Passion auf Erden. "Nur du und ich sind noch hiergeblieben/ mal kämpfen wir, mal schließen wir Frieden". Das Leben liegt in Schutt und Asche. "Jemand ist mit der schwarzen Armee der Angst in unserer Städte einmarschiert", hört man. Die Menschen, heimatverloren, ungläubig und voller Sehnsucht, sind permanent auf der Flucht, wie Stalker in einer Landschaft von Andrej Tarkowski. Anonyme Agitatoren heuern in Schlafstädten und Straßenbahnen junge Kämpfer an, die Kinder laufen in Turnschuhen den Trommlern nach und der Sänger singt "Verlass uns nicht, Hoffnung", während in aller Schönheit Sternschnuppen nachts in den See fallen. "Was können sie uns anhaben, solange wir einander hören". Man darf den gefrorenen Vorurteilen, den Schlagworten, Slogans, Stereotypen, Ängsten und Kränkungen nicht ins Netz gehen. Musik und Dichtung verbindet, Politik trennt. Zhadan verteidigt die Kraft der Kunst, wieder und wieder. Fast alles, was der Fall ist, kann in eine Geschichte gerettet werden. 

Wer tätowiert, liest man in dem eingangs zitierten Gedicht "Die Nadel", wer tätowiert, füllt die Welt immer neu mit Farbe und sticht ihr ein, was jeden von uns leben lässt und wofür wir sterben. Der Tätowierer "durchsticht die Ummantelung". Der Schriftsteller und Sänger Serhji Zhadan ist ein solcher Tätowierer. Mit jedem Stich dringt er seinem Land unter die Haut.