Marie Luise Knott

Erkenntnishunger und Schönheitsdurst

Link zur Tagtigall im Perlentaucher


17.12.2015. Bringen alte Wortschichten miteinander ins Glimmen: Gedichte von Istvan Kemény, Monika Rinck, gerade mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet, und Thomas Kling.

 

Löwenschönheit

Wie die Gitterstäbe dir erlauben, die Schönheit des Löwen / in aller Ruhe zu bewundern, so steht es um die / zerstörerischen Kräfte / der Gefühle im Gedicht,

liest man in dem Band "Ein guter Traum mit Tieren" des ungarischen Dichters István Kemény (geb. 1961). Etwas an den Bezügen geht nicht auf, doch man ahnt unmittelbar, dass es beim Schreiben eines Gedichtes besonderer Schutzmaßnahmen bedarf, um die gewohnten Ängste und Bedrängnisse des Alltags zu missachten, ihnen zumindest ihre Übermacht zu nehmen. Dank der "Gitterstäbe" von Klang und Rhythmus gewährt Kemeny dem Leser in seinen Gedichten Einblicke in die "Schönheit seines Löwen", also in die Absurditäten des Daseins - in ein zerrissenes Inneres in einem zerrissenen Land. 

Dort begegnet man Königen und Gespenstern, Grabinschriften, ägyptischem Lumpenpack und den Lebensfragen der Midlife Crisis. Ob in den Gedichten an seinen Vater, in der Ode an den Kleinmut oder in den Liebesversen - der Alb der Geschichte ist gegenwärtig: der Einmarsch der Sowjets 1956, die bleierne Stille der 1960er Jahre, der sozialistische Drill der Jugend, die Zeit des Tauwetters ebenso wie der Kollaps der Vorstellungswelten nach 1989. Die Entfernungen zwischen Vätern und Söhnen werden ebenso durchmessen wie die Spannungen zwischen den Liebenden. Dabei bleibt Keménys lyrisches Ich voller Aufmerksamkeit für die kleinen Momente, in denen die Menschen - diese liebesbedürftigen Wesen - gegen die drohende Verlassenheit aufbegehren. 

Liebes, mein Schatz, ich wünschte,
ich hätte dir bessere Liebe gegeben. 
Hab weder Entschuldigung noch Rezept,
ich weiss sehr gut, so ist das Leben.

Eine meist leise, manchmal zornige Sehnsucht nach (un)möglichen Verbindungen und Verbindlichkeiten prägt den Ton: "du würdest für die Kinder sterben. Aber nicht für Ideale" beklagt das Ich einmal die siegreiche Vorherrschaft des Privaten. Viele der Gedichte sind Anreden, Anrufungen, aus denen intime Nähe, Trauer und Verzweiflung nachhallen. Gott ist in den Gedichten ebenso unerreichbar wie die Geliebte und ihre "Gespenster". So stemmt sich die Schönheit der Verse gegen den drohenden Verlust der gemeinsamen Welt ("...menschliche Liebe / / na, die wird es nicht mehr geben, diese Art / wird noch zu unserer Lebzeit verschwinden").

Wo das "Nichts", der "Abgrund", und eine "kosmische Leere" drohen, erschafft Kemény eine Dichtung, die Aufenthaltsort und Gegenzauber in einem ist, wohl wissend, dass es mehr gibt als Sinn und Verstand.

Es hebt immer meine Laune,
einen Schlafenden so anzuschauen,
dass er aufwacht und Fragen stellt,
die man nicht beantworten muss, 
allein das Vertrauen zu sehen, mit dem er 
gleich wieder eingeschlafen ist, beruhigt.

Kemény, einer der einflussreichsten ungarischen Gegenwartsautoren, zeichnet auch in diesem Werk weiter an seinem Generationen-Porträt. Jede Übersetzung ist - auch - eine Entortung. Sie löst die Worte und Bilder aus ihrem Ursprungskosmos, sie erlöst sie, lässt sie wandern, mäandern. Wo Übersetzungen gelingen, bringen sie in der Fremde die Eigenwirklichkeit des Originals neu zum Schwingen. Dass Keménys "fantastisches Eiland" (Cornelia Jentzsch) in seinem Witz und seiner Subversivität bei uns anlanden kann, verdanken wir Orsolya Kalász und Monika Rinck, die den leisen lakonischen Sound scheinbar mühelos übertragen haben.

So auch in diesem "Lied vom Imker": 

Sechstausend Jahre bin ich Imker gewesen - 
Seit hundert Jahren Elektriker. 
Seit hundert Jahren Elektriker. 
Geh ich in Rente, will ich wieder Imker werden. 
Etwas soll mir summen, soll mir summen,
es soll mir summen, mir summen, es summe mir.


Eselsgeschrei

Gesang stiftet Gemeinschaft. Bei der diesjährigen Verleihung des Kleist-Preises in Berlin an die Lyrikerin Monika Rinck sangen auf der Bühne vier Schauspieler wiederholt die Zeile 

... an einem Eselsgeschrei hing ein Menschenleben ... 

Dazwischen hallte ein "I - A" ("Monika!") durch den Raum. Wieder und wieder erklang der Satz vom Eselsgeschrei. Seither singt und summt es wohl in jedem, der dabei gewesen. An einem Eselsgeschrei hing ein Menschenleben. Heinrich von Kleists Brief-Halbsatz über seinen absurden Beinahe-Tod in Butzbach, als die Pferde scheuten und die Kutsche kippte, gemahnt bei aller Leichtigkeit des Tons an einen schwer hinzunehmenden und schon oft beschriebenen Tatbestand: die Vergänglichkeit des Erdenlebens und die Vergeblichkeit allen Tuns. Da ist man oder richtiger: frau lieber idiotisch und fängt wagemutig und probehalber "immer wieder von vorne an, dumm zu sein", so die Dichterin in ihrem jüngsten Essayband Risiko und Idiotie, dessen Titel vielleicht nicht von ungefähr als eine Variation auf O und I daherkommt. In Rincks Texten, die Erkenntnishunger und Schönheitsdurst aufs Schönste verbinden, gehen Ernst und Scherz, Anmut und Parodie Hand in Hand. In dieser Welt, einem "Gemischtwarenladen aus Begreif- und Unbegreifbarem" (Günter Blamberger), "erfrischt" Rinck Begriffe durch "Unbegriffe", wie sie sagt. Und der Leser kann dank Rhythmus und Klang Blicke auf den Löwen der unversiegbaren Geheimnisse wagen, das Scheitern in ein Kraftfeld verwandeln und sich zu eigenem Risiko und eigener Idiotie anstiften lassen. 

Stehe inmitten der Sorge. Sei dein eigener Hohn 

liest man in ihrem Gedichtband Honigprotokolle. Es gibt kein Pathos ohne Ironie. Hinter der mitunter lauten und aggressiven Fassade stecke bei ihr wie bei Kleist eine "verletzbare Zartheit", so Heinrich Detering in der Laudatio. Kein Wunder, möchte man hinzufügen, dass Rinck sich mitunter selbst kräftig Mut zusprechen muss:

Selig sind die Lyrikerinnen, denn sie werden die Streitkräfte übernehmen. 
Sie werden die Befehle verklausulieren, bis sie einschlagen wie Bomben.
Sie werden in Frankreich einmarschieren.
Sie werden Mallarmé lesen und sich von Gänsestopfleber ernähren.
Sie werden eine Tasse Tee für den Messias bereithalten, tous les jours a cinq heures.
(...) 
Sie werden euch das Springen beibringen, die Panik, die Wonne, den Schreck."

Rincks Verse singen und deklamieren sich durch das Dickicht der Welt, durch Sinn und Gegensinn, Sang und Antigesang. Und weil es in ihren Texten wie im wirklichen Leben keineswegs nur bierernst zugeht, hat die Dichterin mit Christian Filips und Franz Tröger eine CD mit herrlichsten "Liedern für die letzte Runde" produziert. Es lebe Idiotie und Eigensinn. Hören Sie. 


Noch ein Hörtipp

Wie kaum einer seiner Generation hat auch der viel zu früh verstorbene Dichter Thomas Kling (1957–2005) Idiotie und Eigensinn befragt, er vor allem den Eigensinn der Sprache. "Die Sprache meinen und von der Sprache gemeint sein", nannte er das. In seinen Wort-Sondagen, seinen "notgrabun'", machte er sich verschüttetes Material zu eigen, um aus der "Riesen-summenden-Insektengesellschaft", einzelnen Stimmen und Erfahrungen herauszupräparieren. "... das ist eben viel Material, und dann wirft man genügend weg, so ungefähr..." In der Rückbindung der Poesie an das Sprechen erschienen die Gespenster unserer Geschichte in neuer Gestalt, so in dem Gedicht: "di zerstörtn. ein gesang." 


wir 
pflanztn uns auf, wir aufpflanzer von ba-
jonettn. di blutablaufrinnen, die kanntn 
wir. 

WIR LAGEN IN GROBEN GEGENDN. WIR PFLANZTN
TOD. WIR PFLEGTN DEN GESANG 

. . . so war ich deutscher, serbe,
 franzose; wir wir wir ...

Zu seinem zehnten Todestag ist in diesem Jahr unter dem Titel "Die gebrannte Performance" eine Sammlung seiner Lesungen und Gespräche erschienen. Hört man die Gespräche auf der letzten CD, die sich über viele Jahre hinziehen, so versteht man, wie viel innere Freiheit ein Autor sich nehmen muss, damit ein Gedanke aufblitzen kann. "Es geht darum, dass diese alten Wortschichten miteinander ins Glimmen gebracht werden - dieser Brandsatz, der aus dem poetischen Moment heraus geschieht, dieses Aufglühen und Aufglimmen - dass man in den Berg hineinschauen kann, das ist, glaube ich, die große Leistung, die Dichtung schaffen kann . . ." Eigensinn eben. "Die gebrannte Performance" wurde 2015 zum Hörbuch des Jahres bestimmt und erhielt den Jahrespreis des Preises der Deutschen Schallplattenkritik. 


***

Zum Weiterlesen:

István Kemény, Ein guter Traum mit Tieren. Gedichte. Ungarisch / Deutsch. Reihe: DAAD Spurensicherung. Übersetzung: Aus dem Ungarischen von Orsolya Kalász und Monika Rinck. Matthes und Seitz, Berlin 2015. 19,90 Euro.

Monika Rinck, Poesiealbum 314, Wilhelmshorst 2014, 4 Euro. 
Christian Filips, Monika Rinck, Frank Tröger, Lieder für die letzte Runde, CD, Kookbooks Berlin 2015, 10 Euro. 
Monika Rinck, Honigprotokolle. Gedichte, Kookbooks Berlin, 2012, 19,90 Euro.
Monika Rinck, Risiko und Idiotie, Streitschriften, Kookbooks Berlin 2015, 19,90 Euro. 

Sonne, Mond und Sterne. Von Literatur und Musik. "Die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik", hg. Jürgen Krätzer, Bd. 259, Göttingen 2015, 14 Euro.

Thomas Kling, Die gebrannte Performance. Lesungen und Gespräche. Ein Hörbuch. Herausgegeben von Ulrike Janssen und Norbert Wehr (=Schriftenreihe der Kunststiftung NRW, Band 5). Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2015, 24, 90 Euro.