Marie Luise Knott

Der unerhörte Anfang

Link zur Tagtigall im Perlentaucher


07.10.2015. Die jüngste Ausgabe des Schreibhefts veröffentlicht zeitgenössische französische Dichter und ältere, deren Licht noch auf dem Weg zu uns ist

"DOUKIPUDONKTAN" - mit diesem Satz begann Raymond Queneau 1959 seinen Roman "Zazie dans le Métro", und man musste es sich laut vorlesen: "Fonwostinktsnso?" Die Verbindung von Sprache und Erfahrung war fragil geworden, Sprachkonventionen befanden sich in dieser Generation erneut in Auflösung, die manipulierte, kontaminierte Sprache brauchte Zersetzung. "l"amour / die tür / the chair / der bauch / the chair / die tür / l"amour / der bauch", dichtete Ernst Jandl sein "chanson" zur Zeit von Zazie. Später sagte er, solche Gedichte seien damals nicht als Gedichte angesehen worden; mittlerweile seien sie es. 

Andere von der Materialität der Sprache ausgehende Poeten entschieden sich damals zu einer noch radikaleren Absage an das gängige Ideal eines Verständnis- und Verständigungscharakters der Sprache. Einem von ihnen hat die Zeitschrift Schreibheft in ihrer jüngsten Ausgabe nun ein Dossier gewidmet: Bernard Réquichot (1929–1961) ist hierzulande vor allem als Maler opaker abstrakter Bilder bekannt; nun können wir Ausschnitte aus seinem Schriftwerk der 1950er Jahre lesen. Das Fortschrittsfanal, unter dem die experimentelle Poesie einst angetreten war, ist heute längst wieder verhallt. Was also lesen wir heute, nach dem Ende des avantgardistischen Ausschließlichkeitsgestus, in den Texten? Was haben sie uns zu sagen, wenn Irritation und Überraschung vorbei sind? 

Als Ausgangspunkt seines Schreibens notierte Réquichot einmal:

Bevor die Sprachen erfunden wurden;
Sollte "Hund" vielleicht nicht "Hund" besagen und
wenn einer "Hund" sagte, hätte es durchaus sein 
können, dass man darunter "Fuß" verstand. 

Er ging noch einen Schritt weiter und fragte: Was waren die Geräusche, bevor sie sich zu Worten formten? Was, so sein Beispiel, könnte "Fevouletrac" einmal bedeutet haben? Und überhaupt: was bedeutet "bedeuten"? Immer mehr entfernte sich ihm die Sprache aus dem Korsett aller Konvention. Und es stellte sich bei allem "Sprachabbau" heraus: Sie hatte anderes zu sagen. Mit "KULBUTT" LE COQ" (Kulbutt, der Hahn) bot Réquichot ein phantastisches Silbenspiel, das (unübersetzbar) folgendermaßen begann: 

Kutultubutte tiltakotte, katiltubate, tiltakutte, kahutte, les batikules et batikol tigatte, baltikol et tilkabutte bic et bo du bultuku, kadébic les batikosses batignolle la butte des basbiches, bèche la boulle et billabotte. Le bichon du bourgounian ébat les babiches et batikolle ta bachebatibaboche les bourboulles ....

Diese wirkliches Sprechen imitierenden Zeilen halten verzweifelt, könnte man meinen, durch rhythmische und lexikalische Gesten die Fiktion einer intakten Sprache aufrecht. Es gibt etwas Verbindendes. Ob dieses eines Tages in neue Freiheiten trägt? 

Kurz später gibt Réquichot auch den satzmelodischen Halt auf. 

KATO KATIK KATO KATAK
KATO KAKTI KATOK NIKA 

Das Klappern einer Schreibmaschine? Ein rhythmischer Gesang? Eine Performance? Schon um die vorletzte Jahrhundertwende dichtete Paul Scheerbart ganz "ekoralapsisch": "Kikakokú! / Ekoraláps! / Wiso kollipanda opolása. / Ipasátta ih fuo / Kikakokú proklinthe peteh."

Um 1960, kurz vor seinem Tode entwarf Réquichot "unlesbare Briefe": Tuschbewegungen auf Briefbögen, die allein aus der Geste heraus ihr "Anliegen" darboten. Titel: "Schmähbrief" oder: "Dankesbrief". Der Dichterkünstler hatte das Band zwischen seinen Experimenten und der Wirklichkeit zerschnitten, die Illusion der Gegenständlichkeit der Sprache verloren gegeben und mit diesem Ausbruch aus dem Käfig der "Verstehenshuberei" (John Cage) auch die innere Not der Sprache seiner Zeit freigelegt. "Die Evidenzen, um die es der experimentellen Lyrik geht, sind immer binnensprachliche Evidenzen, ein Nachdenken der Sprache über sich selbst", formulierte vor Jahren Ulf Stolterfoht.

NAKOKNIKOKTIKA NOKOKNITOKTIKÉ
TIKOKTOKA NIKANTE ANKTIKÉ

Anfang des 19. Jahrhunderts müssen, so erzählte es einmal Chateaubriand, auf einer norwegischen Insel Urnen mit unentzifferbaren Grabinschriften gefunden worden sein. "Wem diese Aschen je gehörten, weiß nicht einmal der Wind", notierte er. Auch Bernard Réquichot, dem "fou littéraire", stand wahrscheinlich kein zukünftiger "Sinnbefund" vor Augen. "Je ne sais pas c"qui m"quoi / Ich weiß nicht wasmirwie?" schrieb er einmal. Jedes Gehört- und Verstandenwerden ist ohnehin fragil und ein Glück, wenn es sich ereignet, und experimentelles Sprechen ringt mit denselben Problemen wie Sprechen überhaupt.

Wie ein Echo auf Réquichots Fragen lesen sich einzelne Verse der großen niederländischen Dichterin Anneke Brassinga, die den Auftakt in diesem Schreibheft macht. Die ersten Strophen aus dem Gedicht "ELEMENTA" lauten:

Wenn jeder Augenblick der unerhörte Anfang
einer Nachwehe ist, die erst in Jahrhunderten
Ein Licht wirft auf das Jetzt - 

Dann sind die bekannten Wörter Sterngelichter,
keuchend ankommend, viel zu spät.
Worüber können wir dann noch reden?

Réquichots Dichtung ist ein "unerhörter Anfang". Das Licht, das er auf das heutige Jetzt wirft, mag noch schwach sein, doch seine Poesie hält uns mit ihrer Frage "Worüber können wir reden, und wie?" nach wie vor in produktiver Unruhe. 

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Zum Weiterlesen: 

Schreibheft 85, August 2015, Herausgegeben von Norbert Wehr. Das Dossier "Unlesbare Briefe" wurde zusammengestellt, übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Stefan Ripplinger. Die Übersetzung der Gedichte von Anneke Brassinga besorgte Ira Wilhelm.