Marie Luise Knott

Lücken und Leeren

Link zur Tagtigall im Perlentaucher

 

18.02.2015. Bis Mitte der 2000er wurde die englische Dichterin Lavinia Greenlaw auch in Deutschland übersetzt. Dann riss der Faden. Dabei ist die Lektüre immer noch lohnenswert, wie ein Blick in Greenlaws neuen Gedichtband "The Casual Perfect" beweist. Eine Ermunterung.

Beim kleinen oder großen Grenztransport von Lyrik geht es nicht zuletzt um das Wägen und Wiegen von Worten, Klängen und Bilderwelten. Wir kreuzen durch fremde Dichtermeere und setzen unsere eigenen Binnen- und Bilderreiche diesen Begegnungen aus. Seit Jahrhunderten lesen und übersetzen zudem Dichter, was ihnen an "poetischer Beute" ins Netz geht - nicht zuletzt zur Irritation ihrer Selbst-Gespräche. 
 

Eine Weile lang fanden die Verse der englischen Lyrikerin Lavinia Greenlaw (1962 geb.) hierzulande Beachtung. Erstmals erschienen, soweit ich das herausfinden konnte, Gedichte von ihr 1995 im "Atlas der neuen Poesie", angezeigt von dem Herausgeber und Dichter Joachim Sartorius, übersetzt von Karin Graf. Damals schrieb Sartorius im Vorwort: "Immer noch werden Bücher gedruckt und verkauft, die es nach den Gesetzen des Marktes eigentlich gar nicht mehr geben dürfte. In Südamerika erlebt die Poesie gerade einen neuen Boom. In England erreichen die schmalen Lyrikbände einer jungen Dichtergeneration - Michael Hofmann, Lavinia Greenlaw, Glyn Maxwell - spielerisch zwei, drei, ja vier Auflagen. Es gibt genügend Anzeichen, dass wir gegen Ende dieses Jahrhunderts ein Renouveau der Poesie erleben werden. Die 'poetische Beute' - so Walter Benjamin über Charles Baudelaire - wird groß sein." 

Lavinia Greenlaw geschah, was Sartorius voraussagte: 1998 veröffentlichte der Lektor Christian Döring bei Dumont den Band "Nachtaufnahmen"; 2006, kurz vor Dörings Weggang von Dumont, folgte der Band "Minsk". Letzteren findet man heute nicht einmal gebraucht bei Amazon. Dabei ist in "Minsk" die Verdichtung besonders zauberhaft. Der Band wurde 2003 bei seinem Erscheinen in England hochgelobt und für den T.S. Eliot-Preis nominiert. Auch die deutsche Ausgabe wurde bei ihrem Erscheinen von der Kritik herausgehoben - Katharina Narbutovic pries die Erscheinungen des Lichts, Sibylle Cramer die Räume der Natur, Meike Fessmann die Luft, die jede Zeile ins Schweben bringe, und Thomas Poiss staunte über die hohe Kunst der Verwandlung des Privaten ins Allgemeine. Greenlaw gewinne "poetische Wirklichkeit aus der Wirklichkeit der Wörter", schrieb er. Das war 2006. 

What makes for the fullness and perfection of life

It only came back when I stopped to consider
The small ways in which a garden holds water,
and paused half way through the door in suspense
like the dream which early that morning
Had flicked its magnificent tail then was gone.


Was die Fülle und Perfektion des Lebens ausmacht

Es kam mir erst wieder in den Sinn als ich innehielt
um zu erwägen auf welch kleine Weise ein Garten Wasser hält
ein angespanntes Innehalten im Türrahmen, wie der Traum, 
der früh an jenem Morgen mit seinem prächtigen
Schweif gepeitscht hatte und dann verschwunden war.

(dt. Raphael Urweider)

Eine Person erinnert sich hier an etwas Bedeutendes, just als sie stehen bleibt, um etwas Nebensächliches zu betrachten, nämlich die verschiedenen Weisen, wie ein Garten Wasser sammelt und bindet. Doch das "it", an welches das Ich sich erinnert - "It only came back" -, bleibt unerzählt zwischen den Zeilen. So inszenieren diese Verse die Flüchtigkeit eines jeden Augenblicks, der im Moment seiner Realisierung schon wieder vergangen ist - "then was gone".

Seit dem Erscheinen des Bandes "Minsk" ist es in Deutschland still geworden um Lavinia Greenlaw, dabei hat die Autorin in England weiter publiziert. Erst jüngst hat das British Council Lavinia Greenlaw nach Berlin eingeladen, um sie wieder in unsere Wahrnehmung zurückzuholen. 

2011 erschien der Gedichtband "The Casual Perfect". Was bedeutet der Titel? "Das beiläufig Vollendete", oder: "die vollendete Zufälligkeit", oder: "das abgeschlossen Zufällige" rätselt man. Tatsächlich zitiert der Titel eine Passage aus einem Gedicht, das der amerikanische Dichter Robert Lowell, den hierzulande kaum einer kennt, über seine Freundin, die Dichterin Elizabeth Bishop, verfasst hat, die hierzulande ähnlich wie Silvia Plath im Zuge der Frauenbewegung einen gewissen Widerhall fand.

Robert Lowell schrieb:

..... Do/ 
you still hang your words in air, ten years
unfinished, glued to your noticeboard, with gaps
or empties for the unimaginable phrase-
unerring muse who makes the casual perfect?

Hintergrund ist, dass Elizabeth Bishop offensichtlich, wie die Zeilen erzählen, viele ihrer Gedichtanfänge oder -skizzen zunächst an ein Notizbrett pinnte. So standen die "Lücken und Leeren" des Noch-Nicht-Vorgestellten ihr immer fragend oder fordernd vor Augen, manchmal ganze zehn Jahre lang, bis die Dichterin eines Tages, unbeirrbar dann, eine Lücke mit einem Einfall schloss und so für einen Moment den Zufall abschloss. 

Die Halbinseln nehmen das Wasser zwischen Daumen und Zeigefinger 
wie Frauen beim Befühlen der Meterware. 

liest man von Elizabeth Bishop im "Atlas der neuen Poesie". 

Lavinia Greenlaw hat in einem Interview gesagt, das Schreiben in "The Causal Perfect" speise sich aus Schattierungen der Unschärfe in der Sprache; manchmal tauchten ihr Worte aus undurchdringlichen Wäldern auf - " out of the unpenetrable woods", wie sie Elizabeth Bishop zitiert. Mit Bishop teilt Greenlaw das Beharren auf dem Unfertigen und den Versuch, jene Augenblicke festzuhalten, in denen Wahrnehmung sich überhaupt erst ereignet. Auch in "The Casual Perfect" besteht die Luft aus Gerüchen; Tage laufen in die Leere und viele Verse sind nachts oder in der Dämmerung angesiedelt. 

One day I'll learn to listen 
to the city beneath the snow, 
the agony in the irony, 
the lover as I go

Ein neues Hören: unter der Schönheit der Schneedecke die graue Stadt, hinter dem Mut der Ironie die tatsächliche Verzweiflung, beim Weggehen den Schmerz des Verlassenen. - Man sieht sofort: das Englische ist eine gelenkige Sprache; das Deutsche tut sich daneben oft schwer mit den scheinbar so leichthändig losen Enden und Unschärfen. Dass es bisher kein deutscher Verlag unternommen hat, "The Casual Perfect" an den Gesetzen des Marktes vorbei zu veröffentlichen, ist bedauerlich. Was fehlt, ist Dichtermut und Verleger-Chuzpe - und, wie immer, die Gunst des rechten Augenblicks.