Weitere Übersetzungen

Marie Luise Knott

John Cage, Empty Mind

 

Erschienen: 13.08.2012

Bibliothek Suhrkamp 1472

Gebunden, 243 Seiten

ISBN: 978-3-518-22472-4

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Herausgegeben mit Walter Zimmermann

Übersetzt mit Nanne Meyer

 

 

Die Lesung Unbestimmtheit von John Cage ist zeitlich so organisiert, daß jeder der 90 Texte eine Minute dauert. Die hier übersetzten und in drei Einheiten à 30 Minuten aufgeteilten Texte folgen in ihrer Anordnung der Aufnahme Indeterminacy aus dem Jahr 1959, die 1961 als Doppel LP bei Folkway Records erschien. Die Lesung fand simultan mit dem Pianisten David Tudor statt. Die 90 Texte - erschienen in Silence (1961) sowie in A Year from Monday (1969) - wurden zwischen andere Beiträge verstreut, auffindbar vor allem in dem Kapitel How to Pass, Kick, Fall and Run. 

 

Auszüge aus der englischen Hörfassung "Unbestimmtheit"

1. Teil        2. Teil         3. Teil

Vorabdruck im Tagesspiegel 12.08.2012

 

Auszüge aus der Übersetzung

34'00''

Neulich ging ich zum Zahnarzt. Im Radio sagten sie, es sei der heißeste Tag des Jahres. Trotzdem trug ich ein Jackett, denn der Gang zum Arzt ist mir schon immer als eine offizielle Angelegenheit vorgekommen. Mittendrin unterbrach Dr. Heyman seine Arbeit und sagte: „Warum ziehen Sie Ihr Jackett nicht aus?“ Ich sagte: „Ich habe ein Loch im Hemd, da behalte ich das Jackett lieber an.“ Er sagte: „Nun, ich habe ein Loch in der Socke, wenn Sie mögen, ziehe ich meine Schuhe aus.“

 

35'00''

Allgemein gilt Selbstmord als Sünde. Nachdem ein vierjähriges Kind Selbstmord verübt hatte, waren alle Schüler äußerst begierig zu erfahren, was Ramakrishna wohl dazu sagen würde. Ramakrishna sagte, das Kind habe nicht gesündigt, sondern nur einen Fehler korrigiert; seine Geburt sei ein Versehen gewesen.

 

42'00''

Einmal hielt Bill de Kooning einen Vortrag in Philadelphia. Danach wurde er gefragt, welche Maler der Vergangenheit ihn am meisten beeinflusst hätten. Er sagte: „Die Vergangenheit beeinflusst nicht mich, sondern ich beeinflusse die Vergangenheit.“

 

61'00''

Arnold Schönberg hat sich immer darüber beklagt, dass seine amerikanischen Schüler nicht genügend arbeiteten. Besonders eine der Schülerinnen in seiner Klasse tat tatsächlich nie etwas. Schönberg fragte sie eines Tages, warum sie nicht mehr zustande bringe. Sie sagte: „Ich habe keine Zeit.“ Er sagte: „Wie viele Stunden hat ein Tag?“ Sie sagte: „Vierundzwanzig.“ Er daraufhin: „Unsinn: Der Tag hat so viele Stunden, wie man in ihn hineinlegt.“

 

70'00''

M. C. Richards und David Tudor luden einige Freunde zum Essen ein. Ich ging hin, und es war ein schöner Abend. Nach dem Essen saßen wir noch beisammen und redeten. In einer Ecke fing David Tudor an, irgendwelchen Papierkram zu erledigen. Nach einer Weile entstand eine Pause in der Unterhaltung, und jemand sagte zu Tudor: „Warum kommst du nicht zu uns?“ Er sagte: „Ich bin nicht weggegangen. Das ist eben meine Art, euch zu unterhalten.“

 

71'00''

Als Xenia und ich aus Chicago in New York ankamen, hatten wir am Busbahnhof gerade mal 25 Cent in der Tasche. Wir dachten, wir würden eine Weile bei Peggy Guggenheim und Max Ernst unterkommen. Max Ernst hatte uns in Chicago getroffen und gesagt: „Wir haben ein großes Haus am East River. Solltet ihr nach New York kommen, könnt ihr jederzeit bei uns wohnen.“ Ich ging am Busbahnhof in eine Telefonzelle, warf einen Nickel ein und wählte. Max Ernst nahm ab. Er erkannte meine Stimme nicht. Schließlich sagte er: „Hast du Durst?“ Ich sagte: „Ja.“ Er sagte: „Dann komm morgen auf einen Cocktail vorbei.“ Ich ging zurück zu Xenia und erzählte ihr, was passiert war. Sie sagte: „Ruf ihn noch einmal an. Wir können nur gewinnen und haben nichts zu verlieren.“ Das machte ich. Er sagte: „Oh! Ihr seid es. Wir haben seit Wochen auf euch gewartet. Euer Zimmer ist schon bereit. Kommt nur gleich her.“

 

74'00''

Im Zen heißt es: Wenn etwas nach zwei Minuten langweilig ist, probiere es in vier. Wenn es immer noch langweilt, probiere acht, sechzehn, zweiunddreißig und so weiter. Irgendwann entdeckt man, dass es ganz und gar nicht langweilig ist, sondern sehr interessant.

 

81'00''

Meine Großmutter war manchmal sehr taub, dann wieder war sie kein bisschen taub, vor allem, wenn jemand über sie redete. An einem Sonntag saß sie im Wohnzimmer vor dem Radio. Sie hatte eine Predigt so laut aufgedreht, dass man es mehrere Blocks weit hören konnte. Und dennoch war sie eingeschlafen und schnarchte. Auf Zehenspitzen schlich ich ins Wohnzimmer, in der Hoffnung, ein Manuskript zu ergattern, das auf dem Klavier lag, und mich davonzumachen, ohne dass sie erwachte. Aber gerade als ich an der Tür war, ging das Radio aus, und Großmutter sagte scharf: „John, bist du bereit für die Wiederkunft des Herrn?“

 

87'00''

„Züchte in dir eine große Ähnlichkeit mit dem Chaos des uns umgebenden Äther. Lockere deinen Geist und befreie deine Seele. Sei so ruhig, als hättest du keine Seele.“ Diese Worte finden sich am Ende einer der Zhuangzi-Geschichten, meiner Lieblingsgeschichte, wenn man mich fragen würde. Die Nebeldünste des Chaos hatten viele Mühen aufgewandt, um mit dem Chaos selbst in Verbindung zu treten. Als es ihnen schließlich gelungen war, hüpfte das Chaos herum wie ein Vogel und klatschte sich auf den Hintern. Sie formulierten eine Frage, über die Natur der letzten Dinge. Doch das Chaos hüpfte weiter, schlug sich auf den Hintern und sagte: „Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.“ Bei einer zweiten Gelegenheit kamen die Nebeldünste des Chaos zunächst wieder nicht auf ihre Kosten, aber als sie dem Chaos zusetzten, erhielten sie den genannten Rat. Sie verbeugten sich dankbar und feierlich und zogen von dannen.

 

89'00''

Einmal lud mich Dorothy Norman in New York zum Dinner ein. Es war noch eine Dame aus Philadelphia da, eine Autorität auf dem Gebiet der buddhistischen Kunst. Als sie erfuhr, dass mich Pilze interessierten, sagte sie: „Können Sie erklären, welche Symbolik dahintersteckt, dass Buddhas Tod mit dem Verzehr von Pilzen in Verbindung gebracht wird?“ Ich sagte, ich sei an Symbolik nicht interessiert und würde die Dinge lieber um ihrer selbst willen betrachten, nicht als Stellvertreter für etwas anderes. Aber dann, ein paar Tage später, auf einer Wanderung durch die Wälder, fiel es mir wieder ein. Ich rief mir die indische Idee vom Zusammenhang zwischen Leben und Jahreszeiten in Erinnerung. Frühling bedeutet Schöpfung. Sommer bedeutet Erhaltung. Herbst ist Zerstörung. Winter ist Ruhe. Pilze wachsen am kräftigsten im Herbst, der Zeit der Zerstörung, und viele Pilze haben die Aufgabe, den endgültigen Zerfall des verrottenden Materials zu befördern. Also schrieb ich der Dame: „Die Aufgabe der Pilze ist es, die Welt von altem Müll zu säubern. Der Buddha starb eines natürlichen Todes.“