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Marie Luise Knott

Jean Vautrin, Haarscharf am Leben, Berlin 1991, übersetzt von Marie Luise Knott

 

Gebundene Ausgabe: 274 Seiten
Verlag: Rotbuch Verlag (März 1993)
ISBN-10: 3880227667

 

Benjamin ist autistisch. Charly versucht das Unmögliche, um sich nicht an das Unerträgliche zu gewöhnen. Von dem schrillen Schrei seines kranken Sohnes gepeinigt bis auf die rohen Fasern seiner Nerven, zwingt er sich dazu, nicht zu vergessen. Gerade weil er am liebsten alles auslöschen würde, noch einmal bei Null anfangen, schreibt er den wirklichen Roman seines Lebens: Es war einmal ein Haus ... Und in dem Haus eine Familie ... Charly und seine Frau Victoire, die nicht mehr in Paris Jeanne d'Arc auf der Bühne spielen kann, sondern nur noch eingenässte Bettlaken wäscht, ihre Tochter Marie, die sich im Sommer ins Baumhaus und im Winter in den Fahrstuhl flüchtet, der weltschmerzgeplagte Hippiesohn Antoine ... und Benjamin, der autistisch ist.  

Die Schlüssel zu dieser Familien-Geschichte scheinen in der Vergangenheit zu liegen, die Jean Vautrin mit der Kraft großer Visionäre wiederaufleben läßt. Verwandelt taucht die Okkupation, der Algerienkrieg und die fünfziger Jahre wieder auf, wie Kratzer auf einer Schellackplatte, wo man nicht mehr genau unterscheiden kann, ob ein Marsch oder eine Polka gespielt wird. Ein Roman, der das Herz und den Kopf zerbricht, weil er auf der Suche ist nach dem Glück, koste es, was es wolle, und sei es das Leben.

 

 

Aus dem Buch

“Wie gerne würde ich das Buch mit folgenden Worten beginnen: es war einmal ein Mann, der hatte bis zu seinem Tode vierhundertzwei Milliarden achthundertfünfzigtausendsiebenhundertsiebenunddreißig Worte auszusprechen. Aber dann wäre ich ein ganz schöner Lügner. 

WIe gerne würde ich Ihnen sagen können: ich erzähle Ihnen jetzt von einem Helden, der rückwärts geht, damit er die Blödmänner verkehrt herum trifft. Aber man geht nur bei besonderen Anläßssen rückwärts.

Wie gerne würde ich Sie davon überzeugen wollen, daß wir auf einem Bett dahintreiben, inmitten eines Ozeans aus Martini und Eiswürfeln, daß unsere Lage zum Verzweifeln ist und wir binnen Kürze den Äquator erreichen Aber Sie würden mir doch nicht zuhören.

.....

“Ein Leben, das auf dem Steinfußboden gelandet ist und sich in den Bröseln von Zeit und Ort verloren hat, mit aller Gewalt beschreiben zu wollen, ist ein verwirrendes Unterfangen. Manchmal habe ich Angst, dass es über meine Kräfte geht. Aber schließlich ist sogar die Wissenschaft nur ein Ungefähr. Welcher Weißkittel kann sich schon damit brüsten, in einem Reagenzglas das Lächeln einer Frau, die Verschlagenheit eines Kindes, die Schönheit eines Athleten oder die Schärfe eines Gedankens eingefangen zu haben?” 

 

Prressestimmen

"Um es rundheraus zu sagen: Vautrin hat den französischen Familienroman der achtziger Jahre geschrieben. Er ist rasant erzählt, bordet über von sprachschöpferischen Ideen und zieht sämtliche stilistische Register, die die literarische Entwicklung der letzten Jahrzehnte zur Verfügung stellt." (Tilman Krause , FAZ)

"Es ist kein Wunder, dass der Lothringer Autor drei große französische Literaturpreise bekam. In seinem kraftvollen, gleichzeitig ungehobelten und eleganten Roman über eine flippige französische Familie wechseln ständig die Zeiten und Handlungsorte, wirbeln reale und surreale Szenen durcheinander. Das brillante Puzzle, das von gnadenloser Beobachtungsgabe zeugt, ist unglaublich originell." Sabine Reichel, Brigitte. 

 

taz 24.6.1991

Ein Leben voller Abenteuer
Jean Vautrins Krimi "Haarscharf am Leben"   Von Günther Grosser
Manche Leute schreiben ihre Lebensgeschichte auf, weil sie sowieso ihr ganzes Leben damit zubringen, über weißes Papier gebeugt Geschichten auszubrüten. Das sind die Schriftsteller, und ihre Lebensgeschichten heißen Autobiographien. Die guten sind von Nabokov, Eric Ambler, Gottfried Benn. Von den schlechten reden wir nicht.
Andere Leute sondern Biographisches ab, weil sie ewig unter Scheinwerfern rumstehen müssen und sich am Zeitungskiosk dauernd selber begegnen, so daß sie eines Tages die Angst packt, wir könnten ein völlig falsches Bild von ihnen bekommen. (Tun wir auch.) Das sind die Filmleute, Musiker und Sportler. Ihre Lebensgeschichten heißen Memoiren. Die gute ist von Luis Bunuel. (Hat da hinten jemand "Andy Warhol" gerufen? Na gut.)
Wieder andere wenden sich der Niederschrift ihrer Vita zu, weil sie das ganze Leben lang für uns gerackert haben und wir das einfach nicht zu schätzen wissen. Das sind die Politiker, und ihre Lebensgeschichten heißen Erinnerungen. Die lesen wir nicht, das tun nur ihre Kollegen.
Was aber sollen wir von einem halten, der 15 Jahre lang Filmregisseur war, eine Handvoll kruder Gangsterfilme mit Leuten wie Alain Delon oder Charles Bronson drehte, dann das Fach wechselte, ein Dutzend Romane vorlegte - dabei ganz nebenbei handstreichartig den französischen Kriminalroman umkrempelte -, letztes Jahr sogar den Prix Goncourt bekam und neulich, mit lächerlichen 53 Jahren, Autobiographisches geliefert hat? Genau: Wenigstens ist er nicht auch noch Politiker geworden. Sein Buch, sagen wir's gleich, ist vom Feinsten.
Der Mann ist Franzose und heißt Jean Herman. Besser gesagt: Elsässer und nennt sich Jean Vautrin. Sehen Sie, da fängt's schon an. Und weiter geht's damit, daß der Schriftsteller, der früher mal Filmregisseur war, in dem Buch Haarscharf am Leben weder Vautrin noch Herman, sondern Charlie Floche heißt, obwohl es sich dabei ganz offensichtlich um eine Autobiographie handelt. Das läßt sich nämlich unschwer daran ablesen, daß Charlie am 17. Mai 1933 zur Welt kam - genau wie Jean Herman bzw.Vautrin. Und daran, daß sich da einer schwer gequält haben muß, um einiges hervorzuholen, was andere lieber erst gar nicht anrühren würden. (Ja, autobiographisch, nicht nur authentisch.) Die Leute beim Rotbuch-Verlag bestehen in ihrem Klappentext zwar darauf, daß es sich hier um einen Roman handelt, aber Vautrin selber hält sich aus den Gattungsfragen raus.
Das tun wir dann auch und folgen Charlie in sein wundervolles Buch. Zuerst führt er uns sein Haus vor, dann die Familie: Victoire, die Frau (Schauspielerin), Antoine, Sohn1 (Ausreißer), Benjamin, Sohn2 (Autist), und Marie-Marie, die Tochter (schreibt am laufenden Band Briefe). Dann starten wir alle zusammen zu einem Betriebsausflug in die Geschichte des Schriftstellers Charlie Floche, der mal Filmregisseur war. Zum Beispiel nach Algerien, wo Herman den Befehl hatte, am 13. Februar 1960 die Zündung einer Atombombe in der Wüste zu filmen.
Oder nach Venezuela, wo Vautrin 1970 fast mit dem Flugzeug abgestürzt wäre, als er nämlich gerade die ganze Filmkarriere hingeschmissen hatte und bei der Suche nach einem geeigneten Fluchtpunkt im Atlas mit dem Finger auf dem Orinoco gelandet war.
Oder nach Hollywood, wo Herman mit seinem Produzenten Geld für einen Film besorgen mußte und nicht mal genug dabeihatte, um sich was zu essen zu kaufen.
Oder in ein Schlafzimmer des Jahres 1963, wo Charlie und Victoire gerade dabei sind... na ja, eben dabei sind.
Ein Leben voller Abenteuer und Entscheidungsfreude, wie wir sehen, aber auch Charlie wurde nicht ungestraft nach Mitteleuropa hineingeboren, wo natürlich alles mit Vater, Mutter und Adolf Hitler seinen Anfang nahm. Der Vater war Arzt und Kollaborateur, die Mutter Hausfrau und skeptisch, und Adolf Hitler derjenige, der sich alles nahm, was wiederum den Vater mächtig beeindruckte. Bis dann alles vorbei war, Frauen auf offener Straße kahlgeschoren wurden, diejenigen, die bis dahin mucksmäuschenstill geblieben waren, sich als Volkshelden aufspielten und gleich Charlies Vater so sehr zusetzten, daß der sich am 20. August 1944 ein für allemal in seinen Sessel setzte und bis heute so tief und mächtig in Herman rumort, daß Vautrin ihn immer wieder hervorholen muß und ihm das letzte Kapitel widmet. Und diese 15 Seiten haben es in sich, wie man so schön sagt.
Genau wie übrigens die Geschichte mit der Atombombe in Algerien, die Herman mit einem Team zu filmen hatte und bei der er das Resultat anschließend mit Material aus Nagasaki zusammengetürkt hat, weil auf zwei von drei Rollen nix drauf war. Das klingt ganz lustig, aber lesen Sie mal. Da wird's Ihnen schon vergehen. Die hatten da nämlich 6.000 unfreiwillige Zuschauer plaziert, für "die Oper der endgültigen Vernichtung", "den Polypen der Glut", "die unheilbringende Sauerei", "das Superblabla der französischen Armee", "den Ruggieri-Pilz der Fünften Republik" und was Charlie bei seiner Suada noch so alles an Begriffen einfällt, während er sich da oben auf seinem Hügel mit den Ton- und Kameraleuten abhampelt. Genau genommen fallen ihm die natürlich alle erst 25 Jahre später ein, während er in seinem Schreibzimmer unterm Dach sitzt und brütet. Aber da sehen Sie mal, wie fesselnd der schreiben kann.
Überhaupt: das Schreiben. Wollen Sie mal erleben, wie man über die großen Gefühle schreibt, ohne alles gleich in einem trüben Meer der Larmoyanz absaufen zu lassen, wie es Vautrins deutsche Kollegen seit Jahren treiben? Oder wie man die Welt seines autistischen Kindes zu Papier bringt, ohne uns auch nur ein einziges Mal auf die Idee kommen zu lassen, der Kleine sei arm dran? Oder wie man sich ellenlange Briefe einer Elfjährigen ausdenkt, die ihre Tante über die Familie auf dem laufenden hält?
Um aber eventuellen Enttäuschungen vorzubeugen: Wir reden hier nicht über chronologisches Erzählen oder so was, sondern über ausuferndes, sprudelndes, überbordendes Phantasieren, über den Versuch, 53 Jahren die Form von 450.000 Stunden zu geben und für uns dann die bedeutendsten paar tausend herauszukondensieren. Charlie macht das so, daß er sich hinsetzt und überlegt, wo es im Leben am meisten wehgetan hat, um dann so lange an der alten Wunde herumzudoktern, bis sie sich in, na ja, nicht gerade Wohlgefallen, aber doch was Akzeptables auflöst. Oder sagen wir's anders: Vautrin sind lodernde Feuer lieber als Schwelbrände. Und wenn sie glauben, daß Autobiographisches und Phantasieren sich ausschließen, dann haben Sie sich geschnittten. Das sieht dann nämlich so aus (um noch einmal auf die Bombe zu kommen): "In achthundert Meter Höhe kratzen drei Düsenjäger an dem Wolkenplafond, das zusehends blau wird. Gleich werden sie der Wolke ein paar Proben entnehmen. Momentan machen sie noch etwas Reklame für die parallelen Geraden. Alle Zivilen sind wieder an ihren Plätzen. Sie sitzen mit dem Rücken zur Schweinerei des Jahrhunderts und warten." Herman, wie gesagt, oben auf dem Hügel. Und bei solch einem monströsen Unterfangen paßt dann plötzlich sogar Abgeschmacktes wie etwa das hier: "Der Sonne am Horizont blutet das Zahnfleisch", was wir ansonsten, seien wir ehrlich, nicht mal einem New Yorker Kokainliteraten durchgehen ließen.
Ganz am Anfang, gleich auf Seite1, gibt Charlie übrigens einen Hinweis auf das, was uns da auf den restlichen 274 Seiten erwartet. Den geb' ich Ihnen noch mit: "Im Verlaufe dieses Buches der Rettung, verfaßt am Rande der Autobahn, werde ich genügend Gelegenheit haben, Ihnen zu erklären, um was für eine Art von Flucht aus der Wirklichkeit es sich bei Charlie Floche handelt, so daß Sie sich auf der zweiten Seite mit lakonischen Bemerkungen über ihn begnügen können." Also lakonisch: anhaltender Applaus.
 

Spiegel 24.6.1991

Familienbild und Achterbahn
Die Freifahrt lockt. Mal geht es rauf, mal runter." Die Idee des Karussells ist für den Roman des französischen Schriftstellers Jean Vautrin, 58, eine Art ästhetisches Programm: Der Autor will nicht nur eine Geschichte erzählen, sondern zugleich die rasante Drehbewegung des Lebens selber einfangen.
Dabei wird kein heiteres Sujet ausgemalt, sondern ein "Leben, das auf dem Steinfußboden gelandet ist". Im Mittelpunkt steht die Familie Floche und ihr autistisches Kind Benjamin, das mit dem radikalen Rückzug in seine eigene Welt den familiären Zusammenhang aufs äußerste strapaziert. Benjamin verlangt, so schreibt die jüngere Schwester in einem Brief, "zu viel Energie, als daß wir unsere Zeit noch damit vergeuden könnten, uns unabhängig von ihm zu lieben". Der Vater Charlie, dem der Autor einige autobiographische Züge verliehen hat, zerbricht zum Schluß fast an der Stummheit seines Sohnes. Dennoch ist es allein die familiäre Zuneigung, die das Schlimmste verhindert: "Mit siebzehn Jahren wird Benjamin Floche seinen ersten Satz aussprechen", so heißt es im letzten Absatz des Buches, der, mit Bedacht im Futur verfaßt, melancholisch und optimistisch zugleich auf ein glücklicheres Ende in einer Zukunft jenseits des Romans verweist.
Jean Vautrin, gebürtiger Lothringer, drehte unter seinem bürgerlichen Namen Jean Herman zunächst Filme, bevor er sich 1973 ganz aufs Schreiben verlegte. Als Gewinner des wichtigsten französischen Krimipreises (1980) und des begehrten Prix Goncourt (1989) rückte er zu den angesehensten Gegenwartsschriftstellern seines Landes auf. Die Vorliebe für Rückblenden und Schnitte hat er vom Film in das neue Medium übernommen; die Familiengeschichte ist in einer flimmernden Collage mit den Zeitereignissen vermixt, und das Leben erscheint als eben noch betäubender und dann schon wieder hinreißender Wirbel.