Marie Luise Knott

Nachrichen aus Hungerland


Zur Tagtigall im Perlentaucher

 

18.03.2019. Dichter empfehlen Dichter: Heute hat das Lyrikkabinett München zusammen mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung die Lyrikempfehlungen 2019 veröffentlicht - für den Hunger nach Draußenwelt, nach Aufbruch, nach einem eigenen Blick auf die Welt.
 

I.

Haben Sie je den Film "L'argent de poche" von François Truffaut gesehen? Erinnern Sie sich? Da steht irgendwann, mitten im Film, glaube ich, ein Mädchen, sonntäglich herausgeputzt, am Fenster, weil die Eltern, um es für seinen Trotz zu bestrafen, allein zum Sonntagsessen ausgegangen sind, worüber sich das Kind, die strahlenden Augen erzählen es, offensichtlich freut. Nun steht es am Fenster, reißt es auf und schreit durch das Megaphon des Vaters, eines Polizisten, in den Innenhof des Wohnhauses hinein den Satz: J'ai faim! Ich habe Hunger. Auch wer den Film nicht gesehen hat, kann sich vorstellen, was nun passiert: Alle Anwohner(innen) sind empört und entwickeln ausgetüftelte Seilknüpfwerke, um dem Kind von ihrem Fenster aus etwas vom eigenen Essen zukommen zu lassen. Wenn ich mich richtig erinnere, kommen die Speisen nicht nur von oben herab; nein, es werden komplexe Seilzüge quer über den Innenhof installiert, die an Wäscheleinen in den backstreets of Naples erinnern. 

Wie wir uns unschwer denken können, hungert dieses Kind kein bisschen, oder richtiger: es hungert, aber nach etwas anderem als nach Nachbars Brathähnchen -schon eher nach Draußenwelt, vielleicht nach dem "Sonntagsmittagsglibberpuddinggrün" von Anneke Brassinga, mit "dumpfstutzigem Azur" samt "rumdumgeschlenzten Kaninchenfellen". Es ist schließlich nicht das Konsumable und Verständliche in der Welt, das uns anzieht. 

Apropos Hunger. Um die Enge zu inszenieren, die ihn und seine Zeit umtrieb, hat Truffaut seine Figuren bekanntlich in seinen Filmen gern der bürgerlichen Langeweile ausgesetzt. Zusehends knurrt nicht nur dem Kind, sondern auch dem Zuschauer der Magen, die Sehnsucht nach Ausbruch keimt auf: Denn im Aufbruch, so die Hoffnung, hält sich die Idee wach, dass die Welt, die Sprache, der Mensch ein Unbekannter ist; im Aufbruch kann man, wenn alles gut geht, auf Nahrung stoßen, die nicht übersättigt, nicht saturiert. - "Seit uralten Zeiten pilgern die Menschen von Ort zu Ort in dem festen Glauben, dass eine Frage sich auf den Weg machen kann zu einer Antwort, wie Wasser zum Durst", so formuliert es die Dichterin Anne Carson. Hunger, Wasser - die Menschen brechen auf, und das Fragen beginnt. "Was weißt du schon von Prärie?", fragt Daniela Seel, kookbooks-Verlegerin, in ihrem jüngsten Gedichtband. 

Die Frage, wie eigentlich bei kookbooks um die Jahrtausendwende alles angefangen hat, können wir hier in der Kürze nicht erhellen. Aber so viel ist sicher: es muss ein kollektives Hungern und Dürsten (nach was genau?) gewesen sein, das dafür sorgte, dass sich die Dichter und Dichterinnen damals unter dem Ruf "das amortisiert sich nicht" zur Dichter-Band zusammenfanden und gemeinsam mit dem Zeichner Andreas Töpfer den Verlag gründeten. Als Band ist man bekanntlich weniger allein, mit seinen Zweifeln, Fragen und: mit seinen Kräften. Solcher Hunger vergeht offensichtlich kein bisschen, er lodert weiter. Treibt sich von Vers zu Vers und dort immer Neues hervor: treibt die Autorin Martina Hefter in die Auseinandersetzung mit der schweren Krankheit ihrer Schwiegermutter, treibt Uljana Wolf in die Schriften der Anna O. und lässt Birgit Kreipe in die Mitte eines Sees treiben – wie es in anderen Verlagen Jan Wagner nach Vilnius zu den Überresten der napoleonischen Armee treibt und Nico Bleutge an den Bosporus: an die Ufer jenes von Schiffen durchkreuzten Gewässers, in dem Menschen ertrinken, die es aus Ihrer Heimat ins ferne Europa trieb oder zog.  

Noch einmal apropos Hunger: Fundstücke der verschiedensten Art, alltägliche oder skurrile Geschichten und Begegnungen ebenso wie Sprachereignisse können zu Gedichten werden, egal, ob erlebt, erlesen oder aus dem Internet angeschwemmt: etwa der im Netz zu findende Bericht der holländischen Künstlerin Mieke Zwamborn, die sich in die Bibliothek begeben hatte, um das "älteste Fotobuch der Welt" – eine Cyanotypie über Algen – zu studieren. Das Buch wird auf einem Rollwagen gebracht, berichtet sie: "Ich bekomme ein Kissen aus grünem Samt, damit ich das Buch darauf ablegen kann, und eine mit Sand gefüllte Kordel, damit die Seiten nicht wieder zuschlagen. [Anna] Atkins' Buch ist unter Wasser entstanden. (...). Auf dem blauen Hintergrund sehen die Pflanzen aus, als hätte man sie ins Meer zurückgelegt." Der einstige Hunger der Fotografin Anna Atkins hat sich offensichtlich auf Mieke Zwamborn übertragen (mehr hier auf Niederländisch), und tradiert sich dann - via facebook vielleicht - weiter und weiter. 

Apropos Truffaut: In der Dichtung können Sprünge in Raum und Zeit fast ohne Seilzüge auskommen, richtiger: die Seilkonstrukte sind unsichtbar. Sie halten das Versprechen aufrecht, sich ver-tun zu können, also statt mit den Eltern ins Restaurant mit den Dichtern im Dickicht der Sprache verloren zu gehen. Eine Verheißung. Sprechen und Schreiben seien eine närrische Sache, wusste Novalis. "Das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrtum ist nur zu bewundern, dass die Leute meinen, sie sprächen um der Dinge willen." Der Hunger des Mädchens bei Truffaut galt tatsächlich kaum Nachbars Erdbeertorte; aber sicher hätte es gerne dem "Verschenkten Rat" von llse Aichinger gelauscht, der ein bisschen wie eine Variation auf Brecht klingt: 

 

Hör gut hin, Kleiner,
es gibt Weißblech, sagen sie,
es gibt die Welt,
prüfe, ob sie nicht lügen.


 
II.

In seinem ABC Buch erklärte Novalis so ganz nebenbei, dass man fremde Systeme studiere, um sein eigenes System zu finden. Ein fremdes System stärke den Reiz zum Eignen. Etwas von diesem Prozess, dass sich poetisch Eigenes immer gerade am Fremden nährt und uns nicht nur das Sonntagsmittagsglibberpuddinggrün beschert, scheint jedes Jahr auf, wenn zeitnah zur Leipziger Buchmesse die Lyrikempfehlungen erscheinen, eine Liste, organisiert vom Lyrikkabinett München und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Zusammenarbeit mit dem Haus für Poesie, dem Deutschen Bibliotheksverbund und dem Deutschen Literaturfonds. Unter den Empfehlenden finden sich Kritiker und Dichter, Männer und Frauen. Empfohlen werden Lyrikbände kleiner und großer Verlage, Verse aus fernen Zeiten und Sprachen ebenso wie höchst Zeitgenössisches. Die Empfehlungsliste will und soll einen lauten Akzent setzen gegen den kraftstrotzenden Prosamarkt, sie möchte Orientierungshilfe im Neuerscheinungs-Dschungel bieten und: die Stimmenvielfalt der Poesie stärker in die Öffentlichkeit rücken. 

Dichter lesen und empfehlen, so scheint es mir, anders als Kritiker. Das hat vielleicht mit der Profession zu tun. Oder eben mit dem je spezifischen Hunger und Durst. Dichter reisen auf eigene Weise ins Fragen, auch dort, wo sie empfehlen. Fernverwandtes ebenso wie skandalisierend Verstörendes gehört dazu. Marion Poschmann etwa, die zuletzt in ihrem Gedichtband "Geliehene Landschaften" auf den Spuren von Bashô und anderen japanischen Urgesteinen wandelte, empfiehlt dieses Jahr Saigyô, den Wandermönch, und seine "Gedichte aus der Bergklause", auch wenn Lyrik, wie sie sagt, eigentlich grundsätzlich unübersetzbar ist, und obwohl die Übersetzung hier gleich zweierlei Unmöglichkeiten leisten muss, nämlich große Entfernungen von Raum und von Zeit zu durchmessen. Nico Bleutge, der zuletzt vom Bosporus aus dichtete, feiert in seiner Empfehlung der slowenischen Dichterin Anja Golob das Wasser als Substanz der Wörter; während Monika Rinck, die Kollisionspoetin, die "Kühle und Frische" von Elke Erbs neuestem Band "Gedichtverdacht" preist und die Genauigkeit, mit der Erbs Verse einfangen, was das Unbewusste weiß, aber nicht sagt. Uljana Wolf, die bekanntlich die wechselseitigen Befruchtungen eines mauerlosen Sprachenmix umtreiben, empfiehlt den Tschechen Ivan Blatny, der in der "Hilfsschule Bixley" seine englischen, französischen, deutschen und tschechischen Lebenswelten mixt. 

"Suche nicht, heißt es, nach Spuren der Alten / suche das, was die Alten suchten" – dieser Satz aus Marion Poschmanns "Geliehenen Landschaften" scheint wie für Oswald Egger verfasst, dessen "Triumph der Farben" sie als deutschsprachigen Band empfohlen hat. Egger, der einmal – um zum Hunger zurückzukehren – in einem Gedicht, welches das Wort Apfelspalten im Titel trägt, "Melissen- und Holunderblüten" mit einem "Prasseln der Rhabarber" assoziiert und vom "Luft-stillen Mohn-Lachen der Spiegelwolken" spricht, hat in seinem neuesten Band, so Marion Poschmann, an "das Ungreifbarste mathematische Strukturen" angelegt, um den Erkenntnisgewinn der Poesie zu maximieren. Was das wohl meint? 

Tatsächlich liefert ja das Studium von Systemen und Strukturen viele Gewinne, darunter Erkenntnisse über Aufbruchsformen aus der Enge des Comme-il-faut, wie man ihr bei Truffaut begegnet. Poesie ist Sprachkritik, und diese wird in heutigen Zeiten wieder besonders gebraucht. Poetische Versuchsanordnungen befreien; sie setzen etwas frei – denn dort, wo sie sich zeigen, wo wir sie erkennen, steht mithin auch die Erkenntnis im Raum, dass es andere Verfahren, andere Strukturen geben könnte, dass Strukturen veränderbar sind. Dass es noch etwas anderes gibt als das Vorgefundene. Jeder Mensch hat die Fähigkeit zu handeln, selbst ein Gesetzesmacher zu sein. Wir sind Unikums und Unikas, und dabei immer mit vielen "Alten" zugange. Aus der Sprache können wir nicht heraus. Mit der Sprache gestalten wir die Welt, bauen "Parallelwelten" (Joachim Sartorius über Esther Kinsky). Wir verhandeln die Welt nicht nur mit uns selbst und müssen uns dabei immer neu ver-handeln und ver-tun. Hunger, heißt es, sei ein nervöser Zustand des Gehirns. Auch die Sprache hält er in Unruhe. 

 

 

 

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Zum Weiterlesen: 

Alle Lyrikempfehlungen 2019 des Lyrikkabinetts 

Anneke Brassinga, Fata morgana, dürste nach uns! Ausgewählte Gedichte. übersetzt von Ira Wilhelm, Berlin: Matthes & Seitz, 2016, 200 Seiten, 22 Euro.

Marion Poschmann, Geliehene Landschaften, Lehrgedichte und Elegien, Berlin: Suhrkamp, 2016, 118 Seiten, 19, 90 Euro. 

Saigyô, Gedichte aus der Bergklause, Sankashû, Ausgewählt, übersetzt und mit Kommentar und Annotationen von Ekkehard May, Mainz: Dieterichsche Verlagsbuchhandlung, 291 Seiten, 25 Euro. 

Oswald Egger, Triumph der Farben, Düsseldorf, Lilienfeld Verlag, 2018, 166 Seiten, 25 Euro

Esther Kinsky, Kö növeny kökeny, mit Birnholzschnitten von Christian Thanhäuser, Ottensheim an der Donau: Edition Thanhäuser, 2018, 60 Seiten, 20 Euro.

Elke Erb, Gedichtverdacht, Berlin/Schufart: roughbooks, 94 Seiten, 15 Euro.

Ivan Blatny, Hilfsschule Bixley, aus dem Tschechischen übersetzt und mit einem Nachwort von Jan Faktor und Anette Simon, Wien: Edition Korrespondenzen, 228 Seiten, 22 Euro.

Anja Golob, Anweisungen zum Atmen, Aus dem Slowenischen von Urska P. Cerne und Uljana Wolf, Wien: Edition Korrespondenzen, 71 Seiten, 17, 50 Euro.