Marie Luise Knott

Die Samen, nicht die Zweige der Dichtung


Zur Tagtigall im Perlentaucher

 

14.12.2018. Jüngst las man in einer Verlagsvorschau, alle Gedichte kreisten eigentlich um die immergleichen Themen - Vergänglichkeit, Freiheit, Liebe, Kindheit, Tod etc. - denn in der Lyrik gehe es in Wirklichkeit immer nur um das Wie. Doch was heißt hier eigentlich nur? Schließlich macht der Ton die Musik. Zur Vorweihnachtszeit ein paar Lese-Hinweise.


Freiheit

Der Titel des jüngsten Gedichtbands von Esther Kinsky "kö novény kökény" klingt fremd; fast möchte man meinen: ein Vogellaut. Schließlich gibt es viele Vögel in diesem Band. 

 

Der pirol der pirol auch der nun
endlich zwischen den schüttern 
akazienwipfeln da wirft er die triller
weit von sich und holt sie zurück in sein
goldgefieder ein trugwechsellied der
soliloquist mit seinem wehruf
werweisswoher

 

Können wir mit der Sprache den Pirol dingfest machen? Dessen gelb-bunten grazilen Körper? Dessen "düdelüüe-lio"? Wie hartnäckig verteidigen wir die Illusion, es ließe sich mit Wörtern etwas kommunizieren? Und übersehen dabei, dass alles in der Lyrik Eigenleben lebt, auch die Buchstaben: "weh", "wipfel", "weit", "wehruf", "werweissswoher". Un double Weh, wie der Franzose sagt, ein Wechsellied. 

Bei Kinsky darf Natur ganz für sich stehen, muss keinen Seelenzustand spiegeln und keinen Erlösungsgedanken transportieren. So entsteht eine Freiheit der besonderen Art - wie hier bei den Schlehen: 

 

die sanften die samtnen
schlehen verkrustetes blau fast
schwarz im gestrüpp 
frostigbrandig dornig am
wegsaum und 
gleislängs ungehöriges
verswort zum widerborstenen
splitter-im-aug

 

Wie das dornige Gestrüpp die Früchte, so schützen die Konsonanten hier die Vokale. Die Natur schreibt mit.

Esther Kinsky, kö növény kökény, mit Birnholzschnitten von Christian Thanhäuser, Edition Thanhäuser, 2018, 60 Seiten, 20 €.

 


Kindheit 

Robert Macfarlane stammt aus Großbritannien. Ein Vertreter des Nature Writing. Zuletzt, 2016, hatte er mit seinem Buch "Landmarks" eine Art Wörterbuch der Natur verfasst. 2017 dann erschien das großformatige und mit mehreren Preisen ausgezeichnete Bildband "Lost Words" (dt. Verlorene Wörter). Ein Buch der Beschwörungen. Durchgehend vierfarbigen illustriert von Jackie Morris. 

Dass Wörter und Gegenstände verschwinden, ist eigentlich eine Normalität: Kokolores, Fidibus, Sättigungsbeilage, Bandsalat. Schmerzlicher ist es, und darum geht es Robert Macfarlane, wenn Naturerscheinungen verschwinden. Eben weil die Natur uns trägt - wie wir dachten. Weil alle Menschen gleich vor ihr sind. Und weil wir davon überzeugt waren, dass wir in der Natur jeden Tag erfahren, dass es im Leben unumstößliches gibt - einen Fels, einen Wald und den Wind auf den Wangen. 

Diese Anschauung schmilzt derzeit dahin, doch Macfarlane und Jackie Morris halten dagegen: Aus den Anfangsbuchstaben von Eisvogel und Brombeere, Blauglöckchen und Otter, Kastanie, Reiher, Weide oder Wiesel sind zauberformelartige Gedichte entstanden: eingebettet in zauberhafte Bilder, die den verführerischen Glanz einer frisch aus der Hülle gebrochenen Kastanie ebenso wie die majestätische Ruhe des Reihers vor Augen führen. Diese Poesie ist aus Konzept und Absicht gemacht. Beides ist ein Spiel. Entstanden ist eine Augenweide für Kinder und Erwachsene. (Leseprobe)

Robert Macfarlane, Die verlorenen Wörter, durchgehend vierfarbig illustriert von Jackie Morris, aus dem Englischen von Daniela Seel, Matthes & Seitz Berlin, 100 Seiten, 38 €, (bestellen).

 


Vergänglichkeit

Der Dichter Thomas Kling hat – bis kurze Zeit vor seinem Tod – die Sibyllen der beiden westfälischen Renaissance-Maler Ludger tom Ring d. Ä. und Hermann tom Ring bedichtet. Titel: "Vergil. Aeneis-Triggerpunkte". Statt den christlichen Aufladungen der Gemälde zu folgen, hatte er in diesem Zyklus Spielarten des Sagens im Heute erkundet. "Stimulus", "stimmband", "stimmverzerrer", "magnetband", "röhrengerät", "durch tüllschleier sprache"; und am Ende hieß es, wie ein Echo auf diese entrückten Frauen-Porträts "tonschnitt in ordnung, etwas übersteuert/ kampfgeschehen".

Im Jahr 2017 nun hat Susanne Schulte im Auftrag der Stadt Münster gemeinsam mit der Kookbooks-Verlegerin Daniela Seel sechs Autoren und Autorinnen eingeladen, ihrerseits die Sibyllen der Gemälde zu besingen – die Kimärische oder Kumäische Sibylle ebenso wie die Sibylle Persica, Samia, Erythraea oder auch die Sibylle Hellespontica. Als Zugabe zu den Texten (teils Lyrik, teils Prosa) enthält der Band  21 hochwertige Vierfarb-Drucke der Münsteraner Sibyllen-Tafeln. Die meisten der Beitragenden haben – wie die Schriftstellerin Katharina Hacker – Thomas Klings Bilder mit eigenen Betrachtungen verwoben: 

 

Hier. Von allen die Hellespontica. / Chiffre. Ungerührt, deutungslos, man wollte sie beiseitewischen mit einer ungeduldigen Bewegung, aber ich komme nicht daran vorbei, seit Wochen nicht, wie sie dasitzt, in Form, nach wie vor, stumm, nicht länger lächelnd, mit ihrem entscheidenden Gesicht, die Hände groß und grob, meinethalben Magnetbänder, die Stimme, Tonaufnahmen abgerieben, verschleiert 
 (...) 
Die Hellespontica schweigt. Schaute zu, wie Kling zappelte, schaut uns zu, wie wir zappeln, die Fische im Netz, die aufstiegen und schrien, die stummen Fische - Die Verzweiflung der Schriftstellerei ist, dass sie Totengräberei und -ausgräberei. 

 

Das Wissen darüber, dass Kunst sich nicht nur aus der Wirklichkeit, sondern immer auch aus dem Dialog mit anderen Künsten, den Rhythmen, Klängen und Bildern anderer Werke und anderer Zeiten speist, hat dieses Projekt auf den Weg gebracht. Entstanden ist wundersame Auftragskunst, die sich alle Freiheit nimmt. 

Susanne Schulte, Daniela Seel (Hg.), Sibyllen & Propheten. Triggerpunkte tom Ring, mit Texten von Hendrik Jackson, Katharina Hacker, Hendrik Rost, Jan Skudlarek, Georg Less, Charlotte Warsen, Thomas Kling, kookbooks Berlin 2018, 170 Seiten, 19, 90 €, (bestellen).


Die Liebe 

Vor einigen Jahren hatte ich in der Tagtigall eine "Fehlanzeige" gemeldet und nach Dichtermut und Verleger-Chuzpe gerufen, um den neuen Gedichtband der englischen Lyrikerin Lavinia Greenlaw endlich auf Deutsch lesen zu können. Nun ist das jüngste Werk der Dichterin im Münchner Lyrikkabinett erschienen. Unendliche Nähe. Ein Schweben durchzieht den Band. Nicht das Thema interessiere, sagt die Dichterin einmal, sondern die Variation. Auch im "Englischen Wiegenlied". 

 

Ich habe den Tag mit Träumen gefüllt
Und muss jetzt schlafen.

Es ist schwer, das Dunkel zu finden, denn Dunkelheit
Hat keinen Hafen. 

Ich lebe die Welt zu schnell, zu weit,
als Schein, als Rest. ...

 

Am Schönsten ist es, wenn es schön ist, hat Sarah Kirsch einmal gesagt. Ein solcher Faden von Schönheit durchwebt alle Verse von Lavinia Greenlaw. Nicht nur die Wiegenlieder und Liebesgedichte. 

Lavinia Greenlaw, Eine Theorie unendlicher Nähe. Gedichte, aus dem Englischen von Wiebke Meier, Edition Lyrikkabinett, 100 Seiten, 18 €, (bestellen).

 


Vergänglichkeit 

Vor 15 Jahre erschien die längst legendäre Anthologie "Lyrik von jetzt" - eine erste Bilanz des Aufbruchs in der jüngeren deutschen Poesie. In diesem Herbst nun hat der Lyriker Steffen Popp seine eigene, ganz private Anthologie der Gegenwartslyrik zusammengestellt. Seine "hall of fame", wie er das nennt. Und tatsächlich: frau mag ihr Lieblingsgedicht vermissen, doch hat man die private Selektion erst einmal angenommen, ist der Band eine kleine Fundgrube, nicht zuletzt für Spracharchäologisches. Und ganz nebenbei ist das Schmökern darin ein großer Spaß. So muss es sein. Es erscheinen Engel, "die man sich abgewöhnt" hatte (Th. Rosenlöcher), man liest von Orangen, die zu Organen mutieren (U. Wolf), von Laternen die untergehen wie Gräber (L. Seiler). Bundesdeutsche Oldies wie "ehre sei der sellerie" (H. M. Enzensberger) kann jeder sich hinzudenken. Außerdem gibt es kleine Einfachheiten, etwa diese von Kerstin Preiwuß: 

 

Das ist der Winter. / Jeder Baum ein Schneegesteck. / Jeder Ast eine Korallenhand. / Ein Blatt wie ein Löwenkopf/ dreht sich um ein Vogelnest. 

oder lose Enden, wie die von Friederike Mayröcker:  

Schreiben / ist eine Praxis des Lesens: Aufschrei des Messers, der / greise Vers. Es tobte 1 Schatten am Fenster vorüber

 

Gedichte sind immer auch Gesichte. "Es tobte 1 Schatten am Fenster vorüber" hat eine Fernverwandtschaft mit "Wer reitet so spät durch Nacht und Wind" und erinnert daran, dass die Klänge vergangener Zeiten das Heute noch immer aufmischen. Nicht nur im Gedicht, möchte man hinzufügen. 

Steffen Popp (Hg.), Spitzen. Gedichte. Fanbook. Hall of Fame, Suhrkamp Verlag, Berlin, 254 Seiten, 18 €, (bestellen).