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Marie Luise Knott

Einen Reim auf diese Welt. Zu Rolf Bossert ’Lied’, in Frankfurter Anthologie, 37, Frankfurt, erscheint Herbst 2013

 

 

Rolf Bossert
Lied

Wohin mich mein Weg heute führt: 
Ich weiß es am Morgen noch nicht. 
Am Abend dann, peinlich berührt: 
Auf der Milchstraße wieder kein Licht!


Verbotsschilder sprechen für sich, 
Und dennoch: Ich pfeif aufs Verbot! 
Im Sternenwald füttere ich 
Den Großen Bären mit Brot.


So treib ichs seit einiger Zeit, 
Dem Herrgott begegne ich kaum, 
Ein paar Mal nur seh ich ihn 
weit Verloren im krummen Raum 

 

Langsam kommt dann die Müdigkeit auf:
Ich habe das Trampen verlernt.
Ich schlage mein Himmelszelt auf, 
Einen Steinwurf vom Weltall entfernt.

 

 

Einen Reim auf diese Welt

Am 24. September 1977 berichtete der damals 25-jährige Rolf Bossert in einem Prosagedicht, er lebe derzeit in Bukarest mit seiner Frau und seinen zwei Kindern auf knapp 20 qm. Trotz zahlreicher Eingaben bei den Behörden sei ihm das dritte Zimmer der Wohnung bislang nicht zugewiesen worden. „Nun schreibe ich ein Gedicht“, endet der Text des Rumäniendeutschen. „Ich habe unbegrenztes Vertrauen in die Macht der Poesie.“ - Obwohl die Zeilen unveröffentlicht blieben, wurde ihm wenig später das dritte Zimmer zugewiesen, und so notierte er am 21. Dezember 1977: „womit bewiesen ist, daß auch unveröffentlichte Gedichte die Realität, aus der sie schöpfen, verändern können.“ Vielleicht kann tatsächlich auch ein auf Deutsch verfaßtes Gedicht auf eine Umgebung einwirken, in der Rumänisch gesprochen wird. - Das Ich im Gedicht jedenfalls bricht morgens auf, ohne zu wissen, wohin. Doch am Abend, nach getanem Tag, ist nicht immer Erhellung in Sicht: „Auf der Milchstraße wieder kein Licht.“ Das Tagwerk - also das Leben und das Dichten – ist im Lied von Verboten beherrscht. Keine Freiheit, nirgends. Schlimmer noch: Die Schilder stehen nicht etwa schweigend, nein, sie sprechen - aber nur für sich; sie lassen nicht mit sich reden. Das lyrische Ich geht seinen Weg; es pfeift auf die Unterdrückung und bricht auf an einen Ort, an dem die Verbote nicht gelten: auf die „Milchstraße“ der Dichterworte, von denen Goethe einst schrieb: „Wisset nur, daß Dichterworte / Um des Paradieses Pforte / Immer leise klopfend schweben, / Sich erbittend ewges Leben.“ Statt sich also von den staatlichen Zwängen bestimmen zu lassen, treibt das Ich im Lied salopp gesprochen sein eigenes Ding; es füttert seinen Großen Bären „mit Brot“ - mit dem biblischen Manna, das Überwindung des irdischen Daseins verheißt. 
Es bedarf offensichtlich zahlreicher Luftwurzeln, um sich in totalitären Zeiten die Fähigkeit zum Dialog mit sich selbst zu erhalten. Gott, der einst Allmächtige, wacht längst nicht mehr über die Menschen vom Himmel herab, er ist ein alter Mann, der selbst fern und einsam im erdgekrümmten Himmelszelt lebt. Sein Reich wird nicht kommen. Doch das Ich im Gedicht kann und wird sich nicht anpassen, es hat „das Trampen verlernt“. Es wird sich trotz alltäglicher Mühsal hienieden von keinem fremdgesteuerten Vehikel (Proletariat, Partei, Sozialismus) mehr mitnehmen lassen. Bossert war ein Dichter der „Aktionsgruppe Banat“, wie Herta Müller, Richard Wagner oder Ernest Wichner, aufgewachsen im veralteten Schwabendeutsch seiner Eltern. Er brauchte das „Brot“ anderer Dichter lebensnotwendig; und so hallt im Lied neben Ingeborg Bachmanns Anrufung des Großen Bären auch Trakls „Enkelkind, das Milch und Sterne trinkt“ und vor allem Nelly Sachs’ Prolog aus der Sternverdunkelung nach. Darin beschwört die Dichterin den Erhalt des „Weltalls der Worte“, denn Worte könnten, wie es dort heißt, „die Horizonte in die wahren Himmel rücken“ und in der Finsternis der Nacht „die Sterne gebären helfen“. Bei Bossert behaust sich das Ich einen „Steinwurf“ entfernt von jenem Weltall, wo alles Weltliche einmal geborgen war. 
Es macht die Zeitlosigkeit von Dichtung aus, daß der Vers eine Gefühlssaite anschlägt, die dann - einmal in der Welt - durch die Zeiten weiterschwingen kann. Das Lied , 1979 geschrieben, verströmt eine verzweifelte Heiterkeit, die sich nicht zuletzt der Form verdankt: Inmitten der finsteren Zeiten macht sich der Text einen klassischen Kreuzreim auf diese Welt, und das Versmaß sorgt für den nötigen Schwung, denn der Daktylus ist für den Versbau, was der Dreivierteltakt für den Tanz ist. So bleibt die Hoffnung mitten unter uns, vielleicht. Für Rolf Bossert verfinsterten sich die Zeiten in Rumänien. 1985 gelang ihm mit seiner Familie die Ausreise in die Bundesrepublik. Am 17. Februar 1986 nahm er sich in Frankfurt am Main das Leben. 
Am 16. Dezember 2012 hätte der Dichter seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert. 

Marie Luise Knott 

Aus: Rolf Bossert, Ich steh’ auf den Treppen des Winds, Gesammelte Gedichte 1972 – 1985, Herausgegeben von Gerhard Csejka, Frankfurt 2006, S. 155