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Marie Luise Knott

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, zu Mathias Claudius' "die Mutter bei der Wiege" in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.04.2012

 

Matthias Claudius, Die Mutter bei der Wiege 


Schlaf, süßer Knabe, süß und mild!    
  Du deines Vaters Ebenbild!               
Das bist du; zwar dein Vater spricht,    
  Du habest seine Nase nicht.      

       
Nur eben itzo war er hier                        
  Und sah dir ins Gesicht,                         
Und sprach: Viel hat er zwar von mir,   
  Doch meine Nase nicht.            

            
Mich dünkt es selbst, sie ist zu klein,    
  Doch muß es seine Nase sein.             
Denn wenn’s nicht seine Nase wär’,      
  Wo hättst du denn die Nase her?    

    
Schlaf, Knabe, was dein Vater spricht,  
  Spricht er wohl nur im Scherz;           
Hab’ immer seine Nase nicht,                  
  Und habe nur sein Herz!                        


Ein Schelm, wer Böses dabei denkt

Das Gedicht „Die Mutter bei der Wiege“ beschreibt ein Genrebild, wie wir es aus Kunst und Poesie genau zu kennen vermeinen und schon hundert mal gesehen haben: Eine Frau steht an der Wiege ihres Sohnes. Ihr prüfender Blick liebkost das kleine Gesicht. Ihre Worte wiegen das Kind. „Schlaf, süßer Knabe, .... Schlaf.“ 
Doch bei aller Einfachheit und Beschaulichkeit hat es das Gedicht in sich. Zwar passen die wenigen und schlichten Worte zur Szenerie, doch das Insistieren auf dem „Du habest seine Nase nicht“ löst derartige Gewissheiten schnell auf. Nur eines scheint gewiss: Hier ist etwas nicht so, wie es scheint. 
Gleich in der ersten Zeile hat der Dichter das allzu pathetische Wiegen-Bild (Schlaf süßer Knabe) durch das doppelte „süß“ aufgebrochen. Ein Hintersinn kann sich einschleichen, und beim Leser beginnt das Nachdenken: Warum möchte die Mutter das Kind im Schlaf „mild“ gestimmt wissen? Könnte es sein, dass der Knabe über die Worte des Vaters erzürnt ist?
Von der Liebe ist in diesem Gedicht in jeder Zeile die Rede, ohne dass sie genannt wird. Der innige Ton des Paarreims wechselt auf für damalige Verhältnisse unkonventionelle Weise mit dem sich leicht spreizenden Kreuzreim. Alliterationen, Klang- und Wort-Wiederholungen sowie Pausenreime verleihen den Versen ihren wiegenden Klang. Nur die Frage nach der Nase unterminiert das Vater-Mutter-Sohn-Idyll. Das Enjambement unterstützt den Bruch; und wider besseres Sehen sinniert die Mutter an zentraler Stelle: „Denn wenn’s nicht seine Nase wär, Wo hättst du denn die Nase her?“ - Die Nase, das Erkennungs- und Zugehörigkeitsmerkmal par excellence, war im Volksmund schon immer auch Spottobjekt: Stupsnase, Naseweiss, Knollennase, Zinken. Gilt der Spott den Männern, die in ihren Söhnen nur ihr eigenes Ebenbild suchen? Oder ist die Nase gar Frucht einer heimlichen Liebe, von der niemand nichts weiss? 
Matthias Claudius, der einem protestantischen Pfarrhaus entstammte, hegte 1770, im Alter von dreißig Jahren, aus finanziellen Spekulationen den Plan, eine Wiegenlied-Anthologie drucken zu lassen. Seine Frau Rebekka, die er im März 1772 ehelichte, hatte im September desselben Jahres, im Entstehungsjahr der obigen Zeilen, eine Frühgeburt. Das Kind lebte nur wenige Stunden oder Tage. Ob das Lied für die Ehefrau geschrieben wurde, ob es tatsächlich damals Gerüchte über eine fremde Vaterschaft gab und ob das Lied mit diesen Ereignissen überhaupt in einem Zusammenhang steht, bleibt das Geheimnis seines Verfassers. Oft klingen in Wiegengedichten neben der Mutterliebe andere Lebensthemen an, etwa der Schreck über die Endlichkeit des Lebens oder eine Trauer über die Kürze der Kindheit. Hier nun befragt die Mutter mit ihrer Nasenobsession menschliche Zusammen- und Zugehörigkeiten. Nein, sagt die Mutter pragmatisch oder pietistisch: Es ist nicht die Nase, sondern das Herz, das zählt. 
Heute gilt uns Matthias Claudius („Der Mond ist aufgegangen“) meist als Vertreter einer Empfindsamkeits-Literatur. „Einfalt“ lautete damals sein ironisches Programm für den Wandsbecker Boten („Wie dumm kann sich der schlaue Bothe stellen? / Dies Urteil soll Dein Leser fällen.“) Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Einfalt ist ein ironisches Mittel, die Suche nach endgültigen Wahrheiten zu unterlaufen und festgefahrene Weltanschauungen zu lockern. Verschiedene Deutungen bleiben in der Schwebe, auch widersprüchliche Gefühle kommen zu ihrem Recht. So auch hier. Dichter sagen es sowieso besser, als wir es können.


Aus: Matthias Claudius, Sämtliche Werke, Winkler Verlag, München, S. 38