Marie Luise Knott

Don‘t Mind the Gap

Link zur Tagtigall im Perlentaucher

 

Don't mind the Gap, lautete dieses Jahr der Titel der Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die im Mai in London stattfand: Hütet euch nicht, Ihr Autoren und Übersetzer, begebt euch hinein in den poetischen Abgrund zwischen den Worten, Zeilen, Sprachen! Denn auch wenn es im Londoner U-Bahn- Alltag heißt: mind the gap, ist der Abgrund euer ureigenes Elixir, oder etwa nicht? Entsprechend ging es bei den Begegnungen zwischen englischen und deutschen Schriftstellern mehrheitlich um den Abgrund zwischen den Sprachen: Ist Trakl im Original so stark, dass man seinen spezifischen Sound bei seinen Übersetzern überall durchhören kann? Wie verschieden ist der englische Zbigniew Herbert, den John und Bogdana Carpenter übersetzt haben, von Karl Dedecius deutschem Herbert? Was unterscheidet "Biology-Teacher" von "Der für Naturkunde"?  

Von gaps ist bei Nora Bossong nicht die Rede, wenn sie in der jüngsten Zeit ihrer eigenen Zunft ein vehementes "Dichter, traut euch ins Zentrum!" entgegenruft. Ihr Plädoyer (mehr hier) richtet sich gegen die Kritiker von Jan Wagners Leipziger-Buchpreis-Erfolg "Regentonnenvariationen", die seine Lyrik zu konsumierbar finden. Bossong stellt die Gegenfrage: Wieviel Sprachirritation wollen wir uns leisten, wenn wir kaum jemanden mehr erreichen, fragt sie. 

In London jedenfalls interessierten Jan Wagner die Sprachirritationen und die Abgründe, zum Beispiel die zwischen dem polnischen, dem englischen und dem deutschen Herbert. Er hielt direkt darauf zu, als er zu Beginn der Veranstaltung "Found in Translation. Über das Schreiben und Übersetzen von Poesie" eine bekannte, doch immer wieder amüsante Anekdote zum Besten gab. Nichts ist einfach, weshalb aus Goethes scheinbar ziemlich berühmtem "Über allen Gipfeln Ist Ruh ..."  nach Übertragung ins Japanische, und von dort ins Französische, am Ende im deutschen ein neues Gedicht ankam: Japanisches Nachtlied. Aus den Wipfeln war ein "Pavillon aus Jade" geworden.
 
Die stille Post der Übersetzerei, so Jan Wagner in London, macht viele Abgründe sichtbar. Auch die einfachen, im "Zentrum" anzusiedelnden Gedichte sind möglicherweise schwieriger als es aussieht. William Carlos Williams wäre, nehme ich an, ein anderer Zentrums-Dichter im Bossong'schen Sinne. Sein Pflaumengedicht ist weltweit berühmt, und so einfach, dass man glauben könnte: Jeder versteht es. Und doch: Wie ist es nun? Ist es ein Liebes- oder ein Abschiedsgedicht? Es ist ein Geständnis, soviel ist sicher. Aber: was ist die Intention? Warum nur schreibt das Ich eigentlich auf dem Zettel sinngemäß: Sorry, auch wenn es Dich verletzt, ich musste meiner Lust frönen. Will es sagen: Verzeih mir, ich werde mein Leben ändern? Oder sagt es: Verzeih mir, aber so ist mein Leben. Und was passiert, wenn der andere den Zettel liest? Ist er verärgert oder ist er versöhnt, weil er durch den Zettel nicht allein gelassen ist mit seiner Wut auf die weggefressenen Frühstückspflaumen? Viele "einfache" Dichtung spielt letztlich besonders abgründig mit dem Einfachen. 

Nora Bossong sagt zu recht, dass die Lyrik irritieren muss und noch nie einfach war. Wahrscheinlich kann man nicht auf das Zentrum zuhalten. Dem würde Nora Bossong nicht wiedersprechen. Aber  "Randständigkeit ist kein Lebensprinzip der Poesie", wirft sie ein. Und sie hat Recht. Man wünschte sich immer wieder etwas weniger Randständigkeit. Was wenn Ulf Stolterfoht, der soeben einen Verlag für "schwierige Lyrik" gegründet hat, sich mit seinen Gedichten an öffentliche Plätze stellen könnte und sie dort vortrüge -vergnüglich hintersinnig geht es in Neu-Jerusalem schließlich zu. Was eigentlich ist Zentrum und was ist Randstand? Wäre etwa ein Gedicht wie Monika Rincks "es war vorbei" zentrumsgängig? 

es war vorbei - der sommer war es sicherlich
die sonne kannte nur noch gegensätze
und wo sie fort war, war sie fort.
ab sonntag deutlich kühler, aber
jetzt noch nicht - was für ein licht
das uns verlängerte und die fassaden
in den rechten winkel brachte, harte schatten
geometrisches - ein enggeschnürtes päckchen
war die summe dieses sommers - warte doch
herr doktor benn fegt eben noch
die fetten rosen hin -

Was fehlt darin, um Zentrum zu sein? Vielleicht stimmt es doch, was wir schon immer befürchteten, dass Experimentelle, wenn sie keine öffentlichen Plätze haben, meist warten müssen, bis sie tot sind. Jandl jedenfalls ist heute im Zentrum angekommen, wenn es das Zentrum überhaupt gibt. "Schtzngrmm" ist Schullektüre; ebenso wie Oskar Pastiors "jalousien aufgemacht, jalousien zugemacht, / jalouzien aufgerauft, zulozien raufgezut".  Das animiert nicht zuletzt zum eigenen kreativen Spielen mit Sprache und Wirklichkeit. 

Poesie braucht gaps, sagt Nora Bossong. Es gibt Aprikosenbäume und Atomkatastrophen. Viele der zeitgenössischen Gedichte haben nicht umsonst etwas Unzugängliches, etwas, was gerade in diesem Rätselhaften, Fremden uns angeht und uns "ergreift". Wir nehmen das, was wir nicht verstehen, in Angriff: Ein Hören, Hinhören, Hinein- und Heraushören beginnt. Gerade, wo wir nichts verstehen, beginnen wir, etwas über das Verstehen zu verstehen.

Monika Rinck hat erst kürzlich in Risiko und Idiotie ausgeführt: "Es ist nicht so, dass die Beschäftigung mit Gedichten Ihnen Zeit nimmt. Im Gegenteil: Sie gibt Ihnen Zeit. (...) Stunden, die quer zur Eindeutigkeit stehen und alles aufhalten, weil Sie selbst aufgehalten sind. Das sind die Stunden, die bleiben. (...) Tricksen Sie Erwartungen aus, lassen Sie sich nicht berechnen. Tun Sie idiotische Dinge, lesen Sie unverständliches Zeugs, (...) und Ihnen wird Zeit geschenkt. ... Das Gedicht ermöglicht Ihnen, einem Gedanken Zeit zu geben."

Wenn alles verständlich wäre, fragt sie weiter - wenn alles verständlich wäre, würde man sich dann nicht von einer ganzen Dimension des Lebens verabschieden, von der Möglichkeit zu Überraschung und Erstaunen. Überraschung über manche Dinge aber ist eine notwendige Bedingung des Denkens. Zentrum oder Rand, was besagt das schon. Hauptsache es gibt das Kleine und das Große Ungewisse.