Marie Luise Knott

Die Raubtiere werden immer schneller

Link zur Tagtigall im Perlentaucher


20.01.2015. 2015 feiern Deutschland und Israel 50 Jahre diplomatischer Beziehungen, die 1965 offiziell beschlossen wurden, nachdem 13 Jahre zuvor, 1952, Konrad Adenauer und Moshe Sharett das erste "Wiedergutmachungsabkommen" in Luxemburg unterzeichnet hatten. Wir beginnen die Tagtigall dieses Jahres daher mit einem israelischen Dichter: Dan Pagis.
 

In der Regel beklagen wir beim Betrachten von Lyrik-Übersetzungen den Verlust. Schon der Transport des Mitgeteilten, der semantischen Dimension also, ist bei im Original verdichteten Texten ein Problem. Hinzu kommen all die Aspekte von Form und Klang - Reime und Binnenreime, Rhythmen und Versstrukturen und was sie mit transportieren. Das dichte Gewebe des Originals wird in Fäden zerlegt und nur partiell neu verwoben. Gegen solche Verlustanzeigen befragt die japanisch-deutsche Autorin Yoko Tawada den möglichen Gewinn, da sich in der neuen Sprache - Absicht oder nicht - mitunter völlig neue Konstellationen zwischen Inhalt, Form und Klang einstellen können. 

Der israelische Dichter Pagis, 1930 in Radautz in der Bukowina geboren, wuchs in der deutschen Sprache auf. 1934, als er 4 Jahre war, ging sein Vater nach Palästina, um die Ausreise der gesamten Familie vorzubereiten. Doch im selben Jahr starb Pagis' Mutter und der Junge blieb bei den Großeltern, da er noch zu klein schien, um mutterlos im fernen Palästina aufzuwachsen. Pagis überlebte NS-Deportation und Lager und gelangte 1946, 16jährig, endlich zu seinem Vater nach Palästina. Von nun an nannte er sich Dan, lebte auf Hebräisch und dichtete in der angenommenen Sprache. Doch etwas blieb. Sein Freund, der Dichter Tuvia Rübner berichtete einmal über seine eigenen Erfahrungen: "In ihr (der deutschen Sprache) sprach ich weiter mit meinen Eltern, mit meiner Schwester, mit den Großeltern, den Verwandten, Freunden der Jugend, die alle kein Grab besitzen. Dann wollte ich nicht mehr in meinem, wie ich meinte, eigentlichen Leben, in den Gedichten, in der Vergangenheit sein, auch wenn sie unvergangen war."

Unvergangen - das gilt offensichtlich auch für Dan Pagis. Seine starke Entscheidung für Ivrit, dessen heutige Gestalt nicht zuletzt das Werk von Dichtern ist, konservierte das Unvergangene. "Ein Leben" überschrieb er das (ansonsten hebräische) Gedicht über seine Mutter; und immer wieder tauchen fremde Fetzen wie "Ich küsse Ihre Hand, Madame" übersetzt in den hebräischen Versen auf. Nicht von ungefähr hatte die Übersetzerin Anne Birkenhauer mit ihrem großartigen Rhythmus- und Sprachgefühl während ihrer Arbeit an den Gedichten den Eindruck, so manchen der Verse in seine Muttersprache zurückzubringen. Einige Zeilen, so stellte sie fest, offenbaren (erst) im Deutschen ihre zwingende poetische Logik, - etwa der Satz "Die Urmuschel ist ein Ohr, das sich weigert zu hören." Birkenhauer die Dan Pagis kongenial ins Deutsche übertragen hat, erzählt auch, dass Pagis einige seiner auf Hebräisch verfassten Gedicht-Manuskripte auf Deutsch kommentiert hat, als sei das Unergangene eine letzte Instanz. "Noch immer zu süß?" etwa steht auf einem Blatt. "Ende" steht unten auf einer Seite. 

"Es hat letztlich fünfzig Jahre gedauert, bis ich die Wörter 'ich bin in der Bukowina geboren' schreiben konnte", erzählt  der Dichter in einem Interview. Als er 1972 den Israelischen Staatspreis bekam, hat er einige seiner hebräischen Originale für die deutschsprachige Ausgabe der Kultur-Zeitschrift Ariel selbst übertragen und sich als Maske dafür den Namen G. Padan zugelegt - ein Anagramm seines eigenen Namens. 

Bereit

Auch ich, wie alle Affen im Wald, 
klettere böse von Ast zu Ast: 
die vergangene Urzeit - sie war sonnig - 
ist wirklich vergangen. Jetzt ist es kalt. 
Die Nüsse sind zu hart, die Raubtiere
werden immer schneller.

Also ich wandere aus. Adieu, schon bin ich fort. 
Was ist bloß los, die Zunge
dreht sich mir im Mund. 
Die Schultern, die Schultern, wohin
und plötzlich aufrecht, hoch
und aufrecht stehen, plötzlich,
was denn, diese hohe Stirn!
Glühbirnen, blendend!

Wie gut ist diese Stille. Fast bin ich fertiggestellt.
Ich wähle mir einen netten Anzug, 
stecke eine Zigarette an, lasse mir Zeit
und setze mich zum Chronometer, meinem einzigen Freund, 
an den Tisch, ganz und gar  
zur Erfindung des Schachspiels bereit.

Gespenstisch, diese in Verse geronnene Evolutionsgeschichte der Menschen. Der aus dem Paradies vertriebene Affe wandelt sich zum Menschen - eine Menschheit, die aus Glühbirne, Stoppuhr und dem Erfinden von Schachzügen besteht. Der Affe, der wie in Kafkas Akademiebericht die Zivilisation als bedrohlichen Assimilationszwang erlebt - "die Raubtiere werden immer schneller" und später: "ich wähle mir einen netten Anzug" - dieser Affe hangelt sich in dem von Pagis evozierten postparadiesischen Katastrophenort hienieden zunächst von Ast zu Ast; die Erde ist kalt, die Früchte des Lebens sind zu hart. Es gibt Hoffnung, nur nicht für ihn.

"Metamorphosen" hieß der Gedichtband auf Hebräisch, aus dem diese Verse stammen, und Metamorphosen von Mensch und Tier, von Gestern und Morgen, von Leben und Tod hallen in vielen der Verse von Dan Pagis wider. Gespenstisch auch das Doppelbödige, das in vielen seiner Verse lauert und den Leser nicht in Ruhe läßt: "Nein, nein. Es waren bestimmt / Menschen. Die Uniformen, die Stiefel, / Wie soll ich das erklären. Sie waren Geschöpfe, ihm zum Bilde", übersetzt Anne Birkenhauer.

Bei diesen Versen erübrigt sich die Frage nach Verlust und Gewinn von Übersetzungen, und die Selbstübersetzung von "bereit" klingt wie eine zweite Originalversion. "Adieu, schon bin ich fort."- ein Satz wie von Schnitzler. Klanglich spannen sich die Zeilen zwischen dem wiederholten A des Anfangs und den Zischlauten um s und z am Ende. Die Schlange des Paradieses zischelt durch die Evolution. 

Dan Pagis starb 1986. Sein Nachruhm begann. Ivrit, das Neuhebräisch, war eine Chance: Nach allem, was geschehen war, war die überlieferte Muttersprache kein verlässlicher Boden. Schon gar nicht das Deutsche. Da kam das Ivrit, das sich neu erfinden musste, dem Abgrund, in den sich die Wirklichkeit verwandelt hatte, entgegen. In seinem Gedicht "Sprachproblem" schreibt Pagis, Ivrit sei ein junges ungestümes Ding, permanent im Wandel. "ihr Wort ist kein Wort". Diese Sprache ist störrisch und flatterhaft, "aus gutem Hause" zwar (das Hebräisch der Heiligen Texte), doch ganz der Eroberung des Heute verschrieben. Das sind die Kräfte, aus denen Pagis sein großes dichterisches Werk schöpfte. Und nicht nur er. 

Herkunft 

Mein Sohn läuft zu mir und sagt: mein Sohn.
Ich sage meinem Vater: höre, mein Sohn, ich.
Mein Vater läuft zu mir und sagt: Vater,
hast Du gehört? Uns wurde ein Denkmal errichtet. 
Ich laufe zu mir und sehe: ich liege, 
wie üblich, mit dem Gesicht zur Wand, und schreibe 
auf die weiße Wand mit Kreide
ihre Namen alle, damit ich
meinen Namen nicht vergesse. 

(dt. Amir Eshel)


Entwurf für ein Wiedergutmachungsabkommen

Schon gut, meine Herren, die immer Zeter und Mordio schreien,
ihr lästigen Wundertäter,
Ruhe!
Alles kommt wieder an seinen Platz.
Ein Paragraph nach dem anderen.
Der Schrei wieder in der Kehle. Die Goldzähne in den Kiefer.
Die Angst.
Der Rauch in den blechernen Schornstein und tiefer, tiefer hinein
in die Hohlräume der Knochen.
Schon werden sich Haut und Sehnen über euch bilden und ihr werdet leben,
seht doch, ihr werdet leben, immer noch am Leben sein,
im Wohnzimmer sitzen, die Abendzeitung lesen.
Seht, da seid ihr ja! Gerad noch zur rechten Zeit.
Was den gelben Stern angeht: Der wird einfach
von der Brust gerissen
und emigriert
in den Himmel.

(dt. Anne Birkenhauer)