Marie Luise Knott

Die lose Welt


Zur Tagtigall im Perlentaucher

 

24.11.2018. Elizabeth Bishops Gedichte kommen unmöbliert daher, ohne Deutungen und ohne Interpretationshilfen. Um das Geflecht der Welt und der Sprache zu lockern, ins Freie lösen zu können, hat sie stärkste poetische Mittel eingesetzt. Steffen Popp hat die Denkbewegungen der amerikanischen Dichterin ins Deutsche übertragen.
 

Jedes Mal wundert man sich neu, in welchem Ausmaß Dichter und Dichterinnen im Innern ihres Herzens Einzelgänger sind. Als im Januar 1975 im New Yorker Hannah Arendts Nachruf auf den Dichter und Freund W. H. Auden erscheint, erhält sie einen Brief von Elizabeth Bishop. Sie bedaure, schreibt diese darin, Auden nie kennen gelernt zu haben; sie habe nicht geahnt, wie unglücklich er war: "Das schmerzt mich fast so, als ob ich ihn tatsächlich gekannt hätte." Grund für diese gefühlte Nähe ist, das wird in dem Brief deutlich, Bishops enge innere Verbindung zu Audens Werk, weshalb Bishop sich freut, dass Arendt ausgerechnet Verse zitiert, die ihr, Bishop, zeitlebens wichtig waren. Ob sie dabei an 

 

Time will say nothing but I told you so 
Time only knows the price we have to pay;
If I could tell you I would let you know 

dachte? Oder vielleicht an 

In the deserts of the heart 
let the healing fountain start. 

 

Der heilende Brunnen der Poesie – bei Elizabeth Bishop ist er ein anderer als bei Auden. Bishop hatte zu Lebzeiten, das ist legendär, gerade mal 100 Gedichte zur Veröffentlichung freigegeben. In ihrem Nachruf, so schrieb sie einmal, solle erwähnt werden, dass sie die einsamste Person gewesen sei, die je gelebt. Heute stehen auf ihrem Grabstein zwei Verse aus einem Gedicht, das sie sich 1948, an einem einsamen Geburtstag, selbst zum Geschenk schrieb: "All the untidy activity continues / awful but cheerful"; übersetzt: "Das ganze ungeordnete Treiben geht weiter / schrecklich, doch fröhlich." Das könnte fast als eine Variation auf Audens "Time will say nothing but I told you so" gelesen werden. 

Zeitgenossen kannten Elizabeth Bishop, geboren 1911, vor allem als dichtende Freundin von Robert Lowell, heute haben sich die Verhältnisse verkehrt, denn seit ihrem Tode im Jahr 1979 ist ihr Ruhm stetig gewachsen. Manche behaupten, der Hype verdanke sich ihrer Biografie: ein Frauenleben. Bishop hatte eine schwere Kindheit; ihr Vater starb, bevor sie ein Jahr alt war; und als ihre Mutter in die geschlossene Psychiatrie kam, war sie gerade mal fünf. In Marianne Moore fand Bishop schon früh, Mitte der 30er Jahre, eine Förderin. Vor allem aber: Bishop lebte in lesbischer Liebe - und das recht offen für damalige Gepflogenheiten. Doch tatsächlich dürfte der Grund für den wachsenden Hallraum des Werkes in der Intensität ihrer Dichtung selbst begründet sein, in der Intensität der Beobachtung und Erfahrung ebenso wie in der kristallinen Zeitlosigkeit - in dem also, was Walter Benjamin einst den Wahrheitsgehalt nannte. 

Anstoß für ein Gedicht ist bei ihr mal ein Traum, mal eine Kindheitserinnerung, ein Reiseeindruck oder eine alltägliche Beobachtung; oft auch Landschaftseindrücke. Viele der Bilder gleichen dem Blick eines Kindes, das neugierig und staunend die (für es) noch unbefestigten Ränder seiner Welt entlangstreift, frische Eindrücke sammelt, erste Einblicke gewinnt, und diese quasi gegen das Erwachsenwerden konserviert. Gegen Logik und Folgerichtigkeit. Schließlich ist die Welt, oder besser: das Weiterleben auch aus Verlusten gemacht. 

"One art" - Eine Kunst - heißt ein leicht klingendes Gedicht über ein schweres Thema: die Kunst, Verluste zu ertragen. Durch Ton und Reim und Rhythmus tut das Gedicht so, als könne man Verluste und die daraus erwachsenden Ängste nonchalant wegstecken. "The art of losing isn't hard to master", lautet eine Halbzeile, die, wie zur Beruhigung, mehrfach wiederholt wird, abwechselnd mit dem Vers "I miss them, but it wasn't a desaster." Them, das ist hier stellvertretend ein Wohnungsschüssel oder die vielen vergeudeten Stunden, oder "my mothers watch"; später gar Städte, Flüsse, Kontinente. 

 

Lose something every day. Accept the fluster
of lost door keys, the hour badly spend.
The art of losing isn't hard to master.

Then practice losing farther, losing faster:
places and names, and where it was you meant 
to travel. None of these will bring disaster.

(...)

I lost two cities, lonely ones. And, vaster,
some realms I owned, two rivers, a continent. 
I miss them, but it wasn't a disaster. (1) 

 

In der letzten, einzig 4-zeiligen Strophe dann der Glutkern des Gedichts: 

 

- Even losing you (the joking voice, a gesture
I love) I shan't have lied. It's evident 
the art of losing's not too hard to master 
though it may look like (Write it!) like disaster. (2)


So stand das Gedicht nach vielen vorherigen Fassungen 1976 im New Yorker. Man kann es sich noch so oft einzureden versuchen - wir wissen, Disasterland ist nicht abgebrannt. Während die Mutter im Gedicht vorkommt, hat Bishop den Vater nur klanglich hineingeschmuggelt. Aber: Wie übersetzt man Nichtvorhanden-Vorhandenes, hier den "father" in "farther"? 

In einem Bishop gewidmeten Gedicht gibt Robert Lowell Auskunft über ihr Schaffen:

 

(...)  Do 
you still hang your words in air, ten years
unfinished, glued to your noticeboard, with gaps
or empties for the unimaginable phrase-
unerring muse who makes the casual perfect?

 

Unfertige Gedichte, auch lose Silben- und Wortverbunde müssen manchmal über Monate oder Jahre in Bishops Wohnung gehangen haben, mit Löchern und Weißräumen dazwischen, lauter Platzhalter für das Noch-nicht-Vorgestellte oder (Noch-)nicht-Vorstellbare bei der Verfertigung eines Gedichts, im Vertrauen auf das künftig ihr Zufallende – "to make the casual perfect" wie Lowell das nannte. The casual – das Zufällige, Gelegentliche. Genau dort, im Reich des gelegentlich Zufallenden kann sich bei Bishop das Gedicht erschaffen und vollenden.

Bislang gab es auf Deutsch nur ausgewählte schmale Publikationen, das mag nicht zuletzt daran liegen, wie schwer es ist, dem Zauber des casual perfect im Deutschen einen vergleichbaren Zauber zu verleihen. Schließlich verlockt die deutsche Sprache zu anderen Einfällen als die englische. Der Dichter Steffen Popp nun hat dieses Wagnis unternommen – ein mutiges, großes Unterfangen. Allein schon der Umfang zeugt von Kühnheit, und die braucht es bei Bishop tatsächlich. 

Popp hat eine Auswahl aus allen zu Lebzeiten erschienenen Bänden zusammengestellt und Gedichte aus dem Nachlass hinzugefügt. Er hat im Anhang nicht nur den Erstdruck der jeweiligen Gedichte nachgewiesen, sondern auch zu den einzelnen Gedichten wertvolle Kontextualisierungs- oder Entschlüsselungshinweise geliefert. Sein informatives Nachwort zeichnet Webfäden durchs Werk; etwa dass ihre Dichtung nicht so sehr Gedanken fixiert, als Denkbewegungen; genau skizziert er auch den geografischen Aspekt in ihrem Werk, spricht von inneren und äußeren Topografien. 

Dank dieser zweisprachigen Ausgabe wird auch hierzulande Elizabeth Bishop endlich breiter gelesen und rezipiert werden können. Das ist sein großes Verdienst. Die Übersetzungen selbst überzeugen nicht immer. Aber wer kann solch ein Verdichtetes, Verwobenes und von der Gelegenheit Geschmiedetes übersetzen? Und was kann und was darf das Deutsche und was lässt er es tun? Einmal hat Popp aus "Pleasure Seas" in einem glücklichen Einfall "Entzückensmeere" gemacht. Das hätte Bishop wohl gefreut.

Die Verse dieser Dichterin - Popp spricht im Nachwort von äußerst präzisen kristallinen Bildern - werden im losen Miteinander von Rhythmischem, Klanglichem und Gedanklichem assoziiert. Biografisches schimmert durch. "Nobody knows … nobody knows", soll ihre Großmutter immer gesagt haben: "Ich fragte mich jedes Mal ob sie etwas wusste, was wir nicht wussten, oder ob sie ein tatsächliches Geheimnis meinte". Einmal muss sie sie gefragt haben: "What do you know, Gammie, that we don't know? Why don't you tell us? Tell me!" Aber dann wurde sie nur wieder raus geschickt, weiterspielen. Weiterdichten.

So viel Landschaft es in ihrer Dichtung gibt, Tiere sind selten. In "Der Strandläufer" kommt einem unmittelbar ein faszinierendes Bild vor Augen: von einem weißen Vogel, genauer von vielen weißen Vögeln, die in Scharen aus nichts als Instinkt und Natur heraus unermüdlich am Strand auf und nieder laufen. Das Gedicht beginnt so:

 

The roaring alongside he takes for granted 
and that every so often the world is bound to shake.

 

und schon ist man mittendrin im Erinnerungs- oder Beobachtungs-Bild. "Das Dröhnen neben sich nimmt er hin, / Und dass die Welt ab und zu bebt", übersetzt Popp. Hier fehlt nicht zuletzt das "bound". Sie muss schließlich, die Erde. Sie kann nicht anders, das ist ihre Wellennatur, die dem Strandläufers beschert, was er braucht, am Saum zwischen Meer und befestigter Welt. Wie er da läuft und läuft, weiß er alles und doch nichts von beidem, er folgt nur den Wellen, die ihm - wie die Wellen des Gedichts? - aus der Weite des Ozeans kleinste Körner und Kristalle entgegenspülen. Lebensnahrung. 

 

The world is a mist. And then the world is
minute and vast and clear. The tide
Is higher or lower. He couldn't tell you which.
His beak is focussed; he is preoccupied,

looking for something, something, something. 
Poor bird, he is obsessed. 

 

Zusammengefasst: Mal ist die Welt ein Nebel, ein andermal winzig und weit und klar. Ob Ebbe oder Flut - der Strandläufer, er weiß es nicht. Er weiß nur eins: Er muss picken, picken, picken. Und in der kürzesten Zeile des Gedichtes heißt es: "Armes Ding, er ist besessen." Ein Ausgelieferter. Und wir? 

Aus den undurchdringlichen Wäldern ("unpenetrable woods") kämen die Wörter manchmal auf sie zu, hat Bishop einmal gesagt. Doch was macht man damit in anderen Sprachen? Gute Dichtung ist aus vielen Schichten gemacht, weshalb sie als unübersetzbar gilt. Und dennoch muss es unternommen werden. "Ärgert es dich nicht auch", fragt Bishop in einem Brief Robert Lowell, "wenn die Leute dir wie einen Schuldschein platte Statements hinüberschieben, was du wohl 'gemeint' hast?" Das ist das wahre Ärgernis, gegen das Elizabeth Bishop angetreten ist. Ihre Dichterkollegin May Swenson drückte es anders aus: Beim Lesen der Gedichte, sagt sie, müsse sie diese immer mit eigenen Erläuterungen "möblieren", "because you've left yours out".

 

Ja, ausgelassen hat Elizabeth Bishop vieles, absichtlich. So können wir es möblieren. Oder besser gesagt: die Zukunft wird es können. Bishop hat, um der Losigkeit der Welt Raum zu geben, stärkste poetische Mittel eingesetzt: Refrains, Wiederholungen, Rhythmen, Klänge, Alliterationen; so hat sie die Sprache geknüpft wie die Fischernetze am Strand von Neuschottland. 

 

 

 

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(1) Verlier was jeden Tag. Das Durcheinander / verlorner Türschlüssel nimm hin, die vertane Zeit. /Verlieren, diese Kunst zu lernen ist nicht schwer. // Dann üb Verlieren weiter, und verliere schneller: / Orte, und Namen, und wohin die Reise /  gehen sollte. Nichts davon schmerzt dich sehr. //...// Verlor zwei Städte, hübsche. Und größer / einige meiner Reiche, zwei Flüsse, einen Erdteil. Ich misse sie aber nicht wirklich sehr. (dt. Steffen Popp)

(2) Selbst dich verlieren (scherzende Stimme, Geste, / die ich lieb) ändert nichts daran. Kein Zweifel, / Verlieren, diese Kunst zu lernen ist nicht zu schwer, / auch wenns so aussieht (Schreib es!) wie Desaster.  (dt. Steffen Popp)

 

 

Zum Weiterlesen:

Elizabeth Bishop, Gedichte. Zweisprachige Ausgabe, aus dem Englischen übersetzt von Steffen Popp, Hanser Verlag, München,  348 Seiten, 32 Euro.

Mehr über "One Art" ihr Leben und ihre letzte Liebe, Alice Methfessel, im New Yorker.

Hier noch ein Gedicht

Rain Towards Morning

The great light cage has broken up in the air
freeing, I think, about a million birds
whose wild ascending shadows will not be back,
and all the wires come falling down.
No cage, no frithening birds; the rain 
is brightening now. The face is pale 
that tried the puzzle of their prison
and solved it with an unexpected kiss,
whose freckled unsuspected hands alit.