Marie Luise Knott

Der Stein der Zukunft


Zur Tagtigall im Perlentaucher

07.02.2018. Morgen geht die Ausstellung "Urbans Orbit" im Literarischen Colloquium am Berliner Wannsee zu Ende. In ihr versammelten Andreas Tretner und Marie Luise Knott Einblicke in den Nachlass des Übersetzers Peter Urban, der letztes Jahr vom Deutschen Literaturarchiv übernommen wurde. Einige Kisten darin geben Aufschluss über die Entstehung der zweibändigen deutschen Werkausgabe des russischen Avantgarde-Dichters Velimir Chlebnikov (1885–1922), der als unübersetzbar galt. Oskar Pastior, Paul Celan und andere wagten es dann aber doch.

der grashüpfer
flüxelnd mitz goldsgekrixel
miniminz ädergestricst
drüxt gratzhüpfer in seins bauchs büxel
schilpf und anzer uferblipf
pfilpf, pfilpf, pfilpf!, schimpfelt zinziver 
beschwan beschwampf
kompf her! kompf her 

 

beginnt Oskar Pastiors Übertragung des Gedichtes "Kuznečik" von Velimir Chlebnikov, dem großen Wegbereiter der Moderne. Das Gedicht erschien erstmals 1912 in dem Band "Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack". Hier eine Umschrift des Originals:

Kuznečik 
Krylyškuja zolozopis'mom 
Tončajšich žil 
Kuznečik v kuzov puza uložil
Pribrežnych mnogo trav i ver. 
Pin', pin', pin'! tararachnul zinziver.
O lebedivo. 
O ozari!

 

Und hier eine Lesung des Original-Gedichtes

 

Mit seinem hüpfenden "Pin, pin, pin" kommt das Gedicht leicht daher und ist dennoch mit seiner rhythmischen Wiederholung von Lauten und Lautfolgen tatsächlich höchst komplex gebaut, wie der Slavist Roman Jakobson in seinem Essay "Unterschwellige sprachliche Gestaltung in der Dichtung" analysiert hat. Dem Autor sei, so Jakobson weiter, der Bauplan jedoch unterlaufen, "ohne irgendwelche Absicht seitens des Schreibers dieses Unsinns", soll Chlebnikov gesagt haben. Können Autoren ganz "naiv" solche komplexen Strukturen schaffen? Hatte Chlebnikov tatsächlich erst später erkannt, dass in dem ersten Satz des Gedichtes (hier: den ersten vier Zeilen) die Buchstaben k, r, l und u genau 5 mal wiederkehrten. Das "selbsthafte Wort" habe also eine fünfstrahlige Struktur, so schlussfolgerte er, und der Klang ordne sich "am Gerippe des Gedankens, mit fünf Achsen, wie die Hand und die Seesterne (einige)." Und nicht nur das. Was aber macht ein Übersetzer mit solchen komplexen sprachlichen Bauplänen?

Eine "Hommage à Chlebnikov" durch deutsche Dichter hatte Peter Urban Ende der 1960er Jahre im Sinn. Doch Chlebnikov galt als unübersetzbar. So sehr die nachdichtenden Übersetzer die deutsche Sprache zum Tanzen brachten, sie verstanden, dass sie nur einen Bruchteil im Deutschen rekonstruieren konnten, also konstruierten sie Baupläne zur Erweiterung ihres Sprachreichs. Jede Sprache hat schließlich ihre eigenen Regeln und ihre eigenen Freiheiten., eigenen Rhythmen und Klänge. Wir reden und wir schweigen verschieden.

Die Industrialisierung mit ihrer Zerlegung des Arbeitsprozesses und ihren neuen Geschwindigkeiten stellte zu Chlebnikovs Zeiten grundlegend neue Anforderungen an Weltwahrnehmung. Die Erfindungen brauchten neue Namen. "Vorläufig wissen wir noch nicht, was die Geschwindigkeit hervorbringt. Aber wir wissen, dass eine Sache dann gut ist, wenn sie als Stein der Zukunft die Gegenwart in Brand steckt", so Chlebnikov. Zu seinen poetischen Verfahren zählten die Rückbesinnung auf vergessene Worte und Wurzeln ebenso wie die Konstruktion von Neologismen. Er trieb ein Spiel mit der Bedeutungsvielfalt und brach aus dem Idiomatischen aus. Vielleicht, dass es gelang, jenseits des Hier und Jetzt Licht aus anderen Gefilden einzufangen.

Bis 1960 Paul Celan und Hans Magnus Enzensberger wohl unabhängig voneinander den Sternendichter und Lautpoeten wiederentdeckten, war er hierzulande fast vergessen. Um 1968 herum begann Peter Urban, die Idee einer Werkausgabe zu lancieren - und er hielt an ihr fest. Er fand die Slavistin Rosemarie Ziegler als Hauptübersetzerin, verhandelte mit Verlagen und lud die experimentellen Dichter der damaligen Zeit zu Übertragungen ein. Denn er wusste: das konnte unmöglich einer alleine stemmen. Es gab sie nicht, es würde sie nie geben, die eine, die verbindliche, in sich konsistente Chlebnikov-Übersetzung. Neben Celan und Enzensberger gewann Peter Urban auch H.C. Artmann, Chris Bezzel, Hans Christoph Buch, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Franz Mon, Otto Nebel, Oskar Pastior, Klaus Reichert und Gerhard Rühm. 

In die Aufbruchszeiten der bundesrepublikanischen sechziger Jahre hinein sorgte Urban für Gerüst und Schwung des großen Werkausgabe-Projektes. Die Dichter beteiligten sich mit großer Neugier, wie die Briefe im Nachlass zeigen; dies hatte vielerlei Gründe. Nicht zuletzt suchten die Dichter Inspiration fürs eigene Tun und benötigten außerdem nichts so dringend wie Schützenhilfe aus der Fremde. Mit anderen Stimmen im Tross waren die Experimentellen weniger alleine auf der Welt. Und Urban brachte sie zusammen - versammelte sie um das Chlebnikov-Projekt.

Welche Informationen aber musste man den Dichtern zur Verfügung stellen, die (außer Celan und Pastior) des Russischen zumeist nicht mächtig waren? Wie konnten sie sich den Gedichten zuwenden? Ansprechen lassen? Urban und Ziegler erstellten Rohübersetzungen zu insgesamt ca. 50 verschiedenen Gedichten. Zusätzlich verfassten sie Erläuterungen zu den poetischen Verfahren im jeweiligen Gedicht. Diese Materialien verschickten sie - die Dichter lasen und ließen sich ansprechen. Die Sprache hatte das Wort.

Dieses Blatt fand sich im Celan-Nachlass. Zwei kurze Gedichte auf einer Seite. Handschriftlich fügte Celan die Entstehungsdaten des russischen Originals hinzu: "Kuznečik" entstand zwischen 1906 und 1908. Links steht jeweils die Rohübersetzung, rechts sieht man Urbans Erläuterungen. 

Nachdichtung braucht Spontanität, einen Übersprung sprachlicher Art. "o schwanings" notiert Celan auf dem Blatt- so wird die Zeile auch später im fertigen Gedicht lauten. Die Spontanität braucht einen Kick, einen anfänglichen Sprung über eine Schwelle, um in den anderen Sprachraum hineinzugelangen. "o schwanings" könnte solch ein Kick gewesen sein. 

Das Heupferdchen 
Flügelchend mit dem Goldbrief 
Aus feinstem Faserwerk,
packte das Heupferdchen seinen Wanst korbvoll
mit Ufernem: Schilfen und Gräsern
Pinj, pinj, pinj, pardauzte die Roßpappel,
O schwanings.
O aufschein
!

Auf dem Blatt hatte Celan außerdem die Erläuterung zu "Zinziver" eingekringelt, weil er in seinen Russisch-Lexika andere Bedeutungen für das Wort gefunden hatte. Wo Pastior "Zinziver" lässt, steht bei Celan "Rosspappel", und in der Übersetzung bei Roman Jakobson ist von "Malve" die Rede. Keine Frage: Chlebnikov galt und gilt auch aus solchen Gründen als kaum übersetzbar. Mit der Verwandlung des Titels schließlich, mit dem "Heupferdchen" also, holte Celan einen Märchenton hinein. 

Chlebnikov entführte in eine transmentale Sprache. "Die Sterne duzen", nannte er das. Bei seinen Wortneuerungen schwingen immer - auch - politische Dimensionen hinein. Etwa in der Variation auf die russische Wurzel "mog", die, so Peter Urban in seinen Erläuterungen, im Russischen unter anderem in den Wortfeldern "Macht" und "Können" gegenwärtig ist. Franz Mons Übersetzung spielt mit der deutschen Wurzelnähe von "Macht" und "Mögen". 

komm, machter! 
komm her, machter! machtlich, mein machtling/ 
macher, ich mags ja! 
mögling ich mags! mächter ich mags doch.  

So beginnt das Gedicht "machtgetön der macht". Über eine Seite lang variiert Mon hier die Verführung zur Macht ebenso wie die Verführung, ihr zu folgen. Die Sprache ist wie gebannt

"komm doch machtmann! mit händen! mit armen! 
machtliches möchtliches antlitz voller mögenen!  
machthafte augen, bemachtete gedanken! 

Und später: 

machs machtmann! macher, machere!
komm, machter!

Auch dieses Gedicht, verfasst in Zarenzeiten, hatte in den 1960er Jahren ganz Neues zu sagen. Das Allerkühnste bei Chlebnikov traf auf "das Allergewagteste oder Höchstgeplante in der eigenen Arbeit", beschrieb Otto Nebel in einem Brief die Faszination, aus der heraus das Großprojekt der 2-bändigen Werk-Ausgabe mit ihren über 800 Seiten, ihren 7369 Versen und ihren 19 Übersetzerinnen und Übersetzern in nicht einmal 4 Jahren zustande kam. Am Erscheinungstag war das Buch, das in einer Auflage von 5000 Exemplaren gedruckt worden war, in der Auslieferung vergriffen. 

Auch das findet sich im Nachlass. Wir brauchen mehr Nachlässe von Übersetzern in den Archiven. Für heute, morgen und übermorgen.  


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Zum Weiterlesen:

Die Ausstellung "Urbans Orbit. Einblicke in den Nachlass eines Übersetzers" im LCB Berlin wurde ausgerichtet vom Deutschen Übersetzerfonds in Berlin und kuratiert von Andreas Tretner und Marie Luise Knott. Zur  Finissage der Ausstellung am Donnerstag, den 8. Februar reden im Literarischen Colloquium am Wannsee  die Kuratoren mit dem Archivleiter des Literaturarchivs Marbach. Thema: Was Übersetzer hinterlassen.

Die 2-bändige Werkausgabe von Velimir Chlebnikov in deutscher Sprache, die 1972 erschien, ist heute nur noch antiquarisch erhältlich

Roman Jakobsons Aufsatz "Unterschwellige sprachliche Gestaltung in der Dichtung" erschien in "Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie", Sämtliche Gedichtanalysen, Kommentierte deutsche Ausgabe, herausg. Von Roman Jakobson, Hendrik Birus und Sebastian Donat, de Gruyter Verlag, Berlin und New York 2007. 

Oskar Pastiors gesammelten Chlebnikov-Nachdichtungen finden sich mit Hör-CD in: Oskar Pastior,  Mein Chlebnikov, erschienen bei Edition Urs Engeler, Schupfart, CH, 2003.