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Marie Luise Knott

Das Schwelgen in schönen neuen Adjektiven hat seinen eigenen Reiz. Auf Christian Morgensterns „Butterblumengelben Wiesen“ blühen die schönsten Worte, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.06.2013

Link zum Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

 

Im Frühling und Frühsommer sprießt alles und die Bäume schlagen aus. Das Üppigste, was dann überall blüht, wo es blühen darf, ist das Unkraut, oder besser: Wildkraut. Es ist einfach da, fragt nicht nach Hege und Pflege; es verschwendet sich wie das Leben. Beim ersten Lesen dieses Gedichtes besticht unmittelbar die Sehnsucht nach all dem unnützen Schönen, das viel zu oft von der Ratio gekappt und in Schranken verwiesen wird. Butterblumen etwa sind fast zu nichts nütze im Leben, sie sprießen überreich, strahlen in lauter Freude („wie das Aug dich nie gewöhnt“) und gehören zu jenen Blumen und Kräutern, die das Terrain, auf dem sie siedeln, mit sattem Gelb übergießen.

Die deutsche Sprache verfügt als Ausdruck der Überfülle des Lebens über ein besonderes Mittel: das Kompositum, die Anhäufung, ja Überhäufung von Informationen und Sinneseindrücken, in einem Wort miteinander verwoben. Butterblumengelb, sauerampferrot, wohlgesangdurchschwellt, wunderblütenschneebereift (Gedichttext im Kasten unten). Ein Steigern, ein Schwellen in der Brust. „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“, hieß es in einem Kirchenlied.

Ein langes Wort voll transzendierender Kraft
Das Besondere am Kompositum ist, dass es, wie viele Unnütz-Kräuter, in alle Richtungen der Einzelsilben und Einzelworte hin seine Rhizome und Luftwurzeln wuchern lassen kann. „Sauerampferrot“. Beim Anfang des Wortes - „sauer“ - ist man auf der Hut. Der Ampfer, ist als wildwuchernde Pflanze ein gefürchteter Platzräuber jedes Gärtners, Sauerampfer hingegen ist bei entsprechender Ernte ein Genuß. Das Rot - ein Weingeistrot, wenn man genau hinschaut - ädert sich Nahrung spendend aus den Stengeln in die Blätter hinein und erzählt als Komplementärfarbe zum Blattgrün von der Harmonie der Naturkräfte.

Auch bei „wohlgesangdurchschwellt“ kommt einiges zusammen. Ein Gesang allein ist schon schön genug, Wohlgesang fast eine Tautologie, bei der einem leicht allzu wohl in den Ohren wird. Er schwillt. Erst aber das in der Mitte plazierte unscheinbare „durch“ gibt dem Wort tatsächlich seine ganze Kraft. Denn der Gesang, wie der Wind, bricht sich nicht dort, wo er auf die Bäume trifft, nein, er transzendiert die materielle Wirklichkeit der Welt. „In solcher Schönheit Überstrom wird ärgster Heide Christ“ schrieb Morgenstern in einem Gedicht, das zur gleichen Zeit erschien.

Traumartig locker hat Morgenstern das brustsprengende Kompositum „wunderblütenschneebereift“ hineingewoben. Wunderblüten sind poetische Artefakte. Schnee und Reif zusammen ergeben spontan kein stimmiges Bild. Doch wer erinnerte sich nicht an den wundersamen Blütenzauber, der im Frühjahr die noch fast winterkahlen Weißdornbüsche und Kirschbäume zum Glitzern und Leuchten bringt. Hier, in der Bildgegenwart des Gedichtes, vereint Morgenstern das Vergangene, den Winter, und das Gegenwärtige, die Blütenpracht, denn in der Schönheit ist die Zeit wie aufgehoben.

Das attributive Adjektiv, jene Waffe der Expressionisten, der Sprache wieder den Ausdruck des subjektiven Gefühls einzuverleiben, proklamierte die Wiederversöhnung mit dem Sinnlichen, wenn man so will. Eine Einladung zum Schwelgen - nicht das sehnsuchtsvolle, jenseitige Schwelgen der Romantiker, sondern eines ganz im Hier und Jetzt. Christian Morgenstern, der Schöpfer der humoresken Galgenlieder, der Erfinder von Korf und Palmström, er, der einst „Fisches Nachtgesang“ verschriftlichte, er war ein Sprachakrobat.

Seine Kunst widmete sich einer besonderen Gabe der Sprache, der Gabe zur Nachahmung alles Vorhandenen - hier zur Nachahmung des Frühlingsglücks. Diese seine Kunst machte ihn um die Jahrhundertwende so populär. Die einfache, strenge Reimform gibt allem Überbordenden den nötigen Halt, wie Wegränder den Blumenwiesen. Eins ist gewiss: Die Natur, die tröstliche, wird, solange es sie gibt, vor keiner Schönheit und Überfülle zurückschrecken. Dafür ist sie zu preisen: „Fürwahr, sie zeigt uns Träume“!