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Marie Luise Knott

Bloß zum Guck. Zu Karl Wolfskehl ’Lobgesang’“, in Frankfurter Anthologie, 35, Frankfurt 2011, S. 151–154

 

Lobgesang
Karl Wolfskehl

Büchern bin ich zugeschworen,
Bücher bilden meine Welt.
Bin an Bücher ganz verloren,
Bin von Büchern rings umstellt.

Zärter noch als Mädchenwangen
Streich’l ich ein geliebtes Buch,
Atme bebend vor Verlangen
Echten Pergamentgeruch.

Inkunabeln, Erstausgaben,
Sonder-, Luxus-, Einzeldruck:
Alles, alles möcht ich haben –
Nicht zum Lesen, bloss zum Guck!

Bücher sprechen ungelesen –
Seit ich gut mit Büchern stand,
Weiss ich ihr geheimstes Wesen:
Welch ein Band knüpft mancher Band!

Bücher, Bücher, Bücher, Bücher
Meines Lebens Brot und Wein!
Hüllt einst nicht in Leichentücher - 
Schlagt mich in van Geldern ein!

 

Bloß zum Guck
Es gibt Gedichte, die von untergegangenen Zeiten erzählen. Dazu gehören, so scheint es, auch diese Verse. Ihr Autor, der Dichter und Sprachgelehrte Karl Wolfskehl (1869 – 1948), der einst im Stefan-George-Kreis das Diktum vom „Geheimen Deutschland“ einführte und von sich einmal sagte: „Wo ich bin, ist Deutscher Geist“, war als Dichter für seinen hohen Ton und als Büchernarr unter Kennern für seine mehr als 8000 Exemplare umfassende exquisite Bibliothek bekannt. Seine Sammlung von Lieddrucken galt als „größte in Privatbesitz“. 1930, anlässlich eines Treffens der Gesellschaft der Münchner Bücherfreunde im Hotel Vier Jahreszeiten, dichtete er den „Chor der Bücherwürmer“; der Text wurde verteilt und die Versammelten aufgefordert, den Lobgesang „aus voller Wolfs-Kehle“ zu intonieren – auf die Melodie der Deutschlandhymne. Und man versuche selbst: Es funktioniert! 
Damals war das Bedichten und Besingen in Vereinen noch gang und gäbe. Ironie und Frivolität gehörten dazu. Der Text dieses Gelegenheitsgedichtes jedenfalls ist in zwei Fassungen überliefert. Hier abgedruckt ist die „öffentliche“ Fassung mit dem Titel „Lobgesang“ aus dem Jahr 1932, die Wolfskehl in seine Sammlung Bücher Bücher Bücher Bücher. Elemente der Bücherliebeskunst aufnahm. In dem Einblattdruck, der 1930 im Münchener Verein ausgeteilt wurde, begann die zweite Strophe anders: „Zärter noch als Mädchenbrüste, Streich’l ich ein geliebtes Buch“. Biblio-Erotik ist Männersache.
Ernst, Spott und Selbstironie liegen in diesen Versen dicht beisammen. Bibliophile bilden eine verschworene Gemeinschaft. Ihr Sammeln hat etwas leicht Anrüchiges, und sie kultivieren das gerne. Finderglück, schreibt Wolfskehl einmal, gleiche einem „Ansprechen auf der Straße“ – und erst wenn man das Fundstück nach Hause getragen habe, beginne das Eigentliche: „Endlich allein!“ Aber was dann tatsächlich beginnt, ist nicht so sehr die Lektüre. Der Charme der Geliebten ist von je besonderer Natur. „Bücher sprechen ungelesen.“ Sammeln ist eine Passion derer, die nichts Nützliches brauchen und in den Gegenständen nicht das Nützliche suchen. So kann ganz anderes, ihr „geheimstes Wesen“, den Besitzer vor Verlangen erbeben lassen. „Nicht zum Lesen, bloß zum Guck“, sangen die Münchener Buchgelehrten und dürften dabei den ursprünglichen Text „... über alles in der Welt“ im Kopf mitgedacht haben. Natürlich studierten auch die Anhänger des „Sankt Bibliophilus“ ihre Bücher, doch sie verbindet noch ein anderes Band. Den einen „durchschauert“ es, wenn er einen Druck in Händen hält, in dem einst Shakespeare oder Lichtenberg gelesen hat; der andere gesteht, dass Pergamentgeruch ihn erregt. Er liebt die in jedem alten Buch verborgenen Geschichten – über Herkunft, Geist und frühere Leser - und wünscht sich, ähnlich wie seine Angebeteten einst in handgeschöpftem Van Gelder-Büttenpapier ins Nachleben einzugehen. Als Jude musste Karl Wolfskehl im Frühjahr 1933 fliehen („Herr! Ich will ausschütten meinen Wein!/ ... / Herr, ich weiss nicht aus und nicht ein! / Ich bin allein. / .... / All meine bunten Bälle sind verpufft./ All meine Weisheit ward Dunst und Spreu.“); 1937 verkaufte er seine Bibliothek an den Warenhausbesitzer, Verleger und Büchersammler Salman Schocken nach Palästina. Dafür erhielt er – welch ungeplanter Nutzen! - eine lebenslange Leibrente. Im fernen Neuseeland, das ihn aufnahm, las er mitunter in der Inventarliste seiner Bibliothek, die er mitgenommen hatte.
Mitte der 1970er Jahre, knapp dreißig Jahre nach Wolfskehls Tod, brachten Schockens Erben die Bibliothek unter den Hammer. Kein Band knüpft heute mehr Wolfskehls Bände, nur im „Lobgesang“ hat das Band der stolzen Bücherliebe überdauert. Dieses Deutschland ist heute verstummt, doch es gibt sie noch, die wahren Liebhaber, und sie treffen sich auch heute noch und Van Geldern ist immer noch die Besondere unter den Papierarten. Doch ob die Herren heute noch so unmittelbar und lautstark im Verein „aus voller Wolfs-Kehle“ die eigene geliebte Kultur herzhaft persiflieren könnten, bleibt fraglich.
Marie Luise Knott
Aus: Karl Wolfskehl, Die Stimme spricht, Gedichte, 1997, S.191.