Marie Luise Knott

Auf der Suche nach Frankreich oder einem Wurm

Link zur Tagtigall im Perlentaucher

 

Wandern

"Das nächste Dorf, eine klappernde Mühle, ein Gebäude mit Bach aber immer dunkel und hohl wie entworfen von den Brüdern Kling. Die Leute kamen aus ihren Häusern, sie hatten Hunde dabei, es war schon Morgen, kaum warm. Die Dörfler schießen die Hasen und kaufen sich am Bahnhof eine Wurst. Sie holen die Vögel aus der Luft, die davon nicht dünner wird, nur weniger frei. Wir rannten nun für eine Weile ziellos wie sie durch den Weiler, auf der Suche nach Frankreich oder einem Wurm, der sich durch die Erde gräbt." 

Von Dorf zu Dorf wandert der "Wir"-Erzähler in Hans Thills "Das Buch der Dörfer", und beim Lesen ist man sofort mitten drin in diesen vordergründig einfachen Beschreibungen mit eingebauter "Falltür ins existenziell Bodenlose" (Michael Braun). Dorf, das ist ursprünglich die "Zusammenkunft geringer Leute auf freiem Feld", zitiert Thill das Grimm'sche Wörterbuch. Der eingangs zitierte Wander-Eintrag aus dem lyrischen Prosaband zeigt, dass auch Thills Sprachreich eine Zusammenkunft ist, denn in seinen Texten begegnen sich Vergangenes und Heutiges, Märchenwelten, fremde Dichterworte und die Schreckgespenster der Geschichte - hier: Gebäude-Ruinen unter reglos drückendem Himmel. Die Luft, die Materie, bleibt, was sie ist; ohne die Vögel der Phantasie, die ihr in die Parade fliegen, wären die Gedanken "weniger frei". Fragmente einer Poetik?
 
Hans Thill, der Dichter, Übersetzer und Herausgeber, hat in den letzten zwanzig Jahren unermüdlich fremde Stimmen und Bildreiche in den hiesigen Sprachraum eingespeist: Gedichte aus Polen, Slowenien, Schweden, England, Ukraine, Belgien und der Türkei. Soeben ist mit "Ratgeber für Zeugleute" sein neuer Gedicht-Band erschienen. Einen Eintrag "Zeugleute" gibt es nicht im Grimmschen Wörterbuch, dafür findet man das Wort in den Fantasie(vogel)welten eines August Klett, dessen Manuskripte sich in der Prinzhorn-Sammlung befinden. 

Verse sind Übersetzungen - in Worte und Klänge übersetzte Erlebnisse, Einfälle und Erinnerungen ("Ich sage das Wort, das seine Flügel faltet"), die Thill wieder und wieder dreht und wendet ("Surensammler, Sammelsurium"), kollagiert und miteinander kollidierend ins Glühen bringt. Dabei entstehen beflügelte Zeilen

Von den Wäldern haben wir noch
Die Buchstaben. Der ruhige Schritt einer Eiche,
Reisig, das sich öffnet und schließt wie ein Herz,
eine Glastür am Flughafen
 

Jedes Gedicht trägt eine Schönheit mit sich, die es nicht gleich vorweist, sagt Ulf Stolterfoht, Hans Thills Verleger, und tatsächlich speist sich die Schönheit nicht zuletzt aus dem Eindruck des Nicht-Verstehens. Denn Schreiben kann Welten imaginieren, die "nichts sind als Luft" (Paavo Haavikko). 

Hans Thill, Das Buch der Dörfer, Matthes & Seitz, Berlin 2014.
Hans Thill, Ratgeber für Zeugleute, Brueterich Press, Berlin 2015.


Erinnnern

Die Dichterin Angela Krauß geht andere Wege. In "Eine Wiege" hat sie aufs Schönste und Leiseste zu Fotografien aus ihrer Kindheit Worte und Zeilen aus der Erinnerung geformt, als gäbe es sie doch, die Heimat - in der Sprache zumindest. Warum gibt es so oft in der Literatur den Rekurs auf die Kindheit, fragt man sich. Was war damals, was nicht mehr ist? Oder anders gefragt: Was ist es, was unsere Gegenwart heute so beschattet?

Krauß sucht keine Antwort, doch sie setzt Worte zu Fragmenten von Geschichten zusammen, Familienfeste, Schildkröten, Brieffreundschaften stehen neben dem Bildnis der Mutter als junges Mädchen und Gedanken zur "Dunkelkammer der Weltentwicklung" und zu dem Gewehr, mit dem der Vater sich, so ahnt man,  irgendwann in ihrer Kindheit erschoss.

Die beigefügten Fotografien sind wie Nebeneingänge zu den autonom existierenden Sprachbildern. Einmal sieht man auf einem Foto, wie die Autorin im weißen Sommer-Sonntagskleidchen an den zur Seite gestreckten Armen einen Roller neben sich herführt. Daneben liest man:

Eine Weile
Gingen wir wortlos nebeneinanderher,
eins überrascht
von des anderen Gegenwart.

Nachrichten aus der Wiege unseres Hierseins, als die Gegenwart uns überraschte und wir einander unnütz bleiben konnten.

Angela Krauß, Eine Wiege, Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.


Träumen

Emily Dickinson, jene weltverlorene Verwandlungskünstlerin, dichtete völlig autark (barfuß), als begänne mit ihr das Dichten (Heinz Schlaffer). Mit ihren Flügelschlägen der Phantasie hat sie zahllose Dichter inspiriert und ist heute längst eine Klassikerin der amerikanischen Poesie. Sie soll einmal gesagt haben: "Wenn ich ein Buch lese und mir wird davon am ganzen Körper so kalt, dass kein Feuer mich wärmen kann, weiß ich: Das ist Poesie. Wenn mir buchstäblich ist, als würde mir die Schädeldecke entfernt, weiß ich: Das ist Poesie. Nur so erkenne ich sie. Es gibt keine andere Möglichkeit." 

Zu Lebzeiten hat sie offensichtlich zehn Gedichte veröffentlicht, der Band "Sämtliche Gedichte" umfasst über 1700 hinterlassene Verse, die so geheimnisvoll wie transparent von etwas reden, was sie nie einlösen, wodurch sie noch in den kleinsten Ausschnitten den Leser in betörende Weiten entlassen. 

To make a prairie it takes a clover and a bee,
one clover, and a bee,
And revery.
The revery alone will do,
If bees are few.

Für eine Wiese braucht es Klee und Bienen,
Je eins von ihnen,
Und Träumerei. 
Die Träumerei tut's auch allein,
Bei wenig Bienen.
(dt. Gunhild Kübler)

"Je eins von ihnen" - "Bei wenig Bienen". Diese Übertragung trifft den Ton, in Wort und Klang.  Immer wieder hat es Übersetzungen von Dickinson-Gedichten gegeben. Zu den eigenwilligsten gehörte in der Vergangenheit die kleine Auswahl "Guten Morgen, Mitternacht", welche die (emigrierte) Dichterin Lola Grünthal 1987 Jahre im Henssel-Verlag herausbrachte. Nun aber hat Gunhild Kübler mit großartiger Kenntnis und Leidenschaft Emily Dickinsons "Sämtliche Gedichte" zweisprachig vorgelegt - die meisten erstübersetzt, andere neuübersetzt und alles sorgfältigst annotiert. Durch diese grandiose Edition hat sie uns das Klang-, Bild- und Gedankenreich der Dichterin völlig neu und in all seinen Facetten erschlossen. 

Beauty - be not caused- It Is -

beginnt ein Gedichte. 

Schönheit macht man nicht - Sie ist - 

Man kann sie lesen und wiederlesen, 1408 Seiten lang. 

Emily Dickinson, Sämtliche Gedichte, herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Gunhild Kübler, Hanser Verlag, München 2015.


Trinken

"Entweder bin ich unsterblich" - Was für ein Titel! Was wissen wir von der Unsterblichkeit, und was vom Tode? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die italienische Dichterin Anna Maria Carpi, und sie tut es mit einer dem Hier und Jetzt huldigenden Leichtigkeit. Die Szenen in ihren Gedichten sind gegenwärtig. Meist fällt der Leser, ohne die Schwelle eines Titels zu überschreiten, unmittelbar hinein in das (flüchtige) Bild des Augenblicks. Dann steht das Ich vielleicht an einer Bar und wähnt sich in einem Saloon, wo es sich aufs Pferd schwingt und für eine Handvoll Dollar über fabelhafte Prärien reitet, um im nächsten Moment, immer noch dasselbe Ich und an derselben Bar, eine ganze andere Phantasie wachzurufen und auf den "Ozean der Welt" anzustoßen, 

wo jeden Abend
auf den fünf Kontinenten sich alle Stämme
einfinden zum Trinken, Büffel, Hirsche, Tiger,
als sähe ich sie 
jeden Abend, den Gott uns schenkt -
wie schön, dieser veraltete Ausdruck.
Doch er ist da, wenn du losläßt.

Innere Bilder reihen sich schwebend aneinander und Alltag mischt sich fast unscheinbar mit Existenziellem. Die Themen variieren: die Liebe, die Mutter, der Besuch im Supermarkt, eine Bootsfahrt oder auch ein Gespräch mit geistesverwandten Toten wird evoziert, darunter Bertolt Brechts Amselgesang auf dem Totenbette.  Anna Maria Carpi, die studierte Slavistin und Germanistin, hat unter anderem Nietzsche, Benn, Enzensberger und Grünbein ins Italienische übersetzt. Jetzt liegt in Deutschland eine Auswahl ihrer eigenen Verse vor. Gedichte sind Möglichkeiten, Fiktionen, die sich durch Schönheit bewahren. Starke Geister, sagt Anna Maria Carpi, haben Wirklichkeitssinn, die schwachen hingegen, die träumen, zum Beispiel "von einem Nest, das der Tod nicht findet". Ein Gedicht... "Entweder bin ich unsterblich oder nicht."

Anna Maria Carpi, Entweder bin ich unsterblich, aus dem Italienischen von Piero Salabè, mit einem Nachwort von Durs Grünbein, Hanser Verlag, München.