Marie Luise Knott

Als ich anfing zu schreiben


Zur Tagtigall im Perlentaucher


 

27.02.2019. Der polnische Lyriker Tomasz Różycki führt in seinen Gedichten mit ihren Exkursionen und Tiefenbohrungen in das Reich persönlicher wie kollektiver Erinnerungen. Eine Annäherung


Geboren ist Tomasz Różycki im polnischen Opole, an einem Ort, an dem seine Großeltern nicht sein wollten und wo die einstigen Bewohner nachts noch in den Gemäuern flüsterten. In diese Welt hinein - in die Bruchstelle zwischen dem realsozialistischen Grau in Grau seines Alltags und den nostalgischen Lemberg-Erinnerungen seiner von dort vertriebenen Familie -  hat sich Tomasz Różycki im Schreiben ein Eigenreich geschaffen, das Eigenreich der Poesie, der Rhythmen, Worte Klänge und Buchstaben. In dieser Welt, so schreibt er einmal, wird  "alles mein (...), was ich mir wünsche". Etwas von solchem Kindheits-Spiel tönt an vielen Stellen durch; vielleicht, so fragt man sich irgendwann, ist Schreiben für ihn ein Terrain, das er der doppelten Heimatlosigkeit abgetrotzt hat. 

"Als ich anfing zu schreiben, ahnte ich mitnichten, was ich da wählte, wie viel man damit verdient", heißt es einmal, ohne dass man erfährt, wie das mit seinem Schreiben tatsächlich angefangen hat. Mehrfach findet sich dieser Gedichtanfang wieder:  "Als ich anfing zu schreiben, wusste ich noch nicht, wer darauf wartete" oder "Als ich anfing zu schreiben, wusste ich noch nicht, wozu die Gedichte mich machen, wie sie mich strafen, in ein Gespenst mich verwandeln" oder: 


Als ich anfing zu schreiben, wusste ich nicht
Dass ich sterblich bin, denn es gab keinen Tod,
es war das Goldene Zeitalter, und in den Straßen 
hing der Geruch von Metall. (...). 

 

Der Gedichtband, aus dem diese Anfänge stammen - er heißt "Kolonien", im Original 1997 in Polen erschienen - enthält lauter Sonette mit Titeln wie "Kannibalen", "Delphine", "Haus des Gouverneurs" oder "Korallenwald". Die ferne Fremde dieser eroberten Länder schmeckte stark nach den Ferien-Kolonien der sozialistischen Jugend.

 

Als ich anfing zu schreiben, ahnte ich nicht,
dass jedes meiner Worte ein Stück von der Welt
mit sich nimmt und stattdessen nur Leere 
zurücklässt. Dass die Gedichte mir langsam

Vaterland ersetzen, Mutter und Vater, die erste
Liebe, die zweite Jugend, dass, was ich aufschreibe,
aus der Welt verschwindet und sein beständiges Sein
gegen ein flüchtiges tauscht, dass es zu Luft wird ...

 

Kraft und Sound eines Gedichtanfangs scheint für Różycki Sprungbrett, von dem aus die Phantasie sich abstößt, ihre Freiheit gewinnt. Die Phrase "Der Kerl, der sich die Welt gekauft hat", die der deutschen Buchveröffentlichung den Titel gab, ist eine andere, frei nach David Bowie erfundene, wiederkehrende Anfangszeile, diesmal stammt sie aus Różyckis Gedichtband "Buch der Umsätze", ein Zyklus, der von seiner Amerikareise handelt.

Die vieldimensionale sprachliche Gestalt von Różyckis Gedichten mit ihren Exkursionen und Tiefenbohrungen in das Reich persönlicher wie kollektiver Erinnerungen schafft starke Verse. Die Sprache assoziiert sich frei und fügt - vielleicht in der Tradition von Zbigniev Herberts "Treue" zu den Gegenständen ("man kann ihnen nichts vorwerfen") – Dinge zusammen, die nicht zusammengehören. So weiten sich die Welten ins Innere. "Die Buchstaben kommen den stärksten Drogen gleich", hat Różycki einmal gesagt: "Sie befreien die Imagination." Doch nirgends in den Gedichten, so scheint es, wird die Droge Sprache selbst zu halluzinogenem Material; sie reflektiert verschiedene Repertoires der polnischen Dichtung und kreiert ihr eigenes. Nicht von ungefähr ist eines seiner Gedichte in diesem Band Czesław Miłosz zugeeignet.  

Derzeit ist der in Polen vielfach ausgezeichnete Tomasz Różycki als Gast beim Berliner Künstlerprogramm des DAAD; zuletzt erschien der für den Wisława Szymborska-Preis nominierte Gedichtband "Litery" ("Buchstaben"). Hierzulande ist er vor allem mit seinem Langgedicht "Zwölf Stationen" bekannt geworden,  ein Porträt der polnischen Provinz, das von Judith Leister in der NZZ bei seinem Erscheinen  als "gärender und schillernder, brodelnder und krabbelnder Mikrokosmos" gepriesen wurde, welcher "voller Originale steckt und doch von einem Kollektiv erzählt". Der nun erschienene Band "Der Kerl, der sich die Welt gekauft hat", versammelt Gedichte  aus verschiedenen Bänden, die zwischen 1997 und 2016 in Polen erschienen sind. Ihre Titel sind so verschieden, wie die Kosmen, die sie entfalten: "Vaterland", "Anima", "Blumengeschmückte Hütte", "Welt und Antiwelt", "Kolonien", "Buch der Umsätze "und "Buchstaben". Bernhard Hartmanns Übersetzung sorgt  für deren sprachliche Festigkeit im Deutschen. Doch Różycki arbeitet bevorzugt in Zyklen; in jedem ist eine eigene Dramatik am Werk, mit Rhythmen, Bewegungen, Bildern und Metaphern. Durch die Auswahl fehlt etwas von diesem Innenleben.
 
In der Poesie begegnen wir im Fremden immer auch dem Eigenen; und die verstörte  Welt in Różyckis poetischen Räumen fasziniert unmittelbar. In dem Gedicht "Die Krise des polnischen Staates" aus "Litery/Buchstaben" lauscht das lyrische Ich dem nächtlichen Gesang einer Drossel. Sie hat es geschafft,  den Vogeljägern in Zyperns Gärten, den russischen Bombern in Syrien und dem Giftmüll in den Wäldern entlang der Oder zu entrinnen, und ist nun im fremdenfeindlichen Polen angekommen, wo sie sich vor dem Fenster des Dichters niedergelassen hat.  "Ich danke dir, dass du in der Nacht / bei uns landetest und mit süßem Liebesgesang / die Herrschaft über dies sumpfige Land übernahmst / aus dem die Juden verschwanden." So liest man. Immer schwingt bei Różycki explizit oder implizit Fehlendes mit, und so ist der Zugvogel nicht nur Sinnbild der Freiheit, sondern auch das Sinnbild für seine eigene Geschichte, die im Schreiben der Fremdheit eingedenk bleibt.

 

 

 

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Zum Weiterlesen:

Tomasz Różycki, Der Kerl, der sich die Welt gekauft hat, Gedichte, herausgegeben und aus dem polnischen übersetzt von Bernhard Hartmann, Berlin: edition.fotoTAPETA, 2018, 112 Seiten, 10 Euro

Tomasz Różycki, Zwölf Stationen, Poem, aus dem Polnischen von Olaf Kühl, Luchterhand Literaturverlag, München 2009.